Jagdzeit
jedem Busch ein Knurren mit anschließendem tödlichem Biss erwarten kann, trägt nicht unbedingt zu meiner Entspannung bei. Ich rechne jede Sekunde damit, zwischen den Fingern Fell oder, schlimmer noch, den Speichel auf der Haut zu spüren, der aus einem weit geöffneten Wolfsrachen tropft.
Könntest du freundlicherweise damit aufhören, das Gruselszenario dermaßen episch zu zelebrieren? Das ist ja niedrigstes Heftromanniveau. Da stehen einem ja sogar als körperlosem Unterbewusstsein die Haare zu Berge!
Wie spät mag es wohl sein? Mir kommt es vor, als ob es in den letzten zwei, drei Minuten um Nuancen heller geworden ist. Habe ich so lange geschlafen? Kann es sein, dass es bald Morgen wird, oder ist das Wunschdenken? Aber nein, tatsächlich, da vorn, zwischen den immer gewaltigeren Baumstämmen gibt es tatsächlich mehr Licht. Mein Herz klopft hoffnungsvoll.
Vorsichtig, mit weit ausgestreckten Armen, ertaste ich mir einen Weg durch das Gebüsch, ständig darauf bedacht, nicht zu fallen. Ich erschrecke maßlos, als ich nach einem langen Schritt plötzlich ins Leere greife. Kein Busch, kein Ast, kein Baumstamm, nicht einmal dieser widerliche brusthohe, entsetzlich klebrige Farn von vorhin. Nur leerer Raum. Heller leerer Raum.
Im ersten Moment muss ich meine Augen abschirmen, denn ich starre auf die erleuchteten Fenster des wohl seltsamsten Gebäudes, das ich je gesehen habe.
Es ist ein Baum und auch wieder nicht. Vor mir, aus dem Waldboden einer riesigen Lichtung, erheben sich enorme Wurzeln, die einander umschlingen, miteinander verwachsen sind und sich schließlich zum wohl gigantischsten Stamm vereinigen, den es je gegeben hat. Ich war als Kind mit meinen Eltern in den Muir Woods nördlich von San Francisco, wo tausend Jahre alte Bäume als geschützte Touristenattraktion vor sich hin wuchern. Dort stand ich staunend vor einem Exemplar des legendären Küstenmammutbaumes, starrte ungläubig auf den achtzig Meter hohen Riesen. Doch dieser Anblick war nichts im Vergleich zu dem, was sich nun vor mir aufbaut und weit, weit oben, vor dem dunklen Nachthimmel, eine Krone trägt, deren Schatten mein Blickfeld komplett ausfüllt. Doch das ist keineswegs das Bizarrste an dem Exemplar.
An der Stelle, wo der Monsterstamm in die Wurzeln übergeht, muss ein riesiger Hohlraum existiert haben, denn dort, verwachsen mit dem Baum, präzise eingepasst oder einfach direkt aus ihm herausgeschnitzt, befindet sich die Hütte. Es ist schwierig, zumal in der Dunkelheit, Natur und Menschenwerk optisch zu unterscheiden. Fast hat man den Eindruck, dass beides
miteinander entstanden ist, dass eines das andere hervorgebracht hat, eines ohne das andere nicht sein kann, was allerdings meine Vorstellungskraft bei Weitem übersteigt. Die Rinde des Baumes ist das Holz der Hüttenwände, kein Schnitt in der Maserung, kein gezimmerter Übergang. Wäre dieser Gedanke nicht zu verrückt (andererseits liegen die Grenzen der Normalität schon meilenweit hinter mir), würde ich fast sagen, dass die Hütte mit dem Baum aus dem Boden gewachsen ist.
Als wäre das nicht schon unwirklich genug, ist das Gebäude auch noch über und über mit lebensechten Darstellungen diverser Tiere bemalt. Am schönsten ist die Abbildung eines goldenen Hahnes direkt über der Tür. Sein Gefieder funkelt im Laternenlicht, seine goldenen Augen blitzen über seinem Schnabel und blicken direkt in meine, als wäre er nicht ein kunstvolles Bild, sondern ganz und gar lebendig.
Jeder Fleck dazwischen ist mit farbigen Wörtern in einer mir unbekannten Sprache ausgefüllt, sodass ich das Gefühl habe, vor der unglaublichsten 3D-Installation im Pariser Centre Pompidou zu stehen, ein modernes Gesamtkunstwerk am denkbar sonderbarsten Platz dieser Erde.
Aus dem Inneren der Hütte dringt flackerndes Licht. Einladend raucht es aus einem fast unsichtbaren Kamin, der wie ein dicker hohler Ast aussieht und schräg nach oben wegsteht.
Ganz plötzlich ist mir leicht ums Herz. Die Hütte im Wald! Es gibt sie wirklich. Gott sei Dank, ich habe es geschafft, ich habe sie gefunden! Ich zittere vor Erschöpfung und Freude. So ist das also mit der ganz großen Sehnsucht. So fühlt sich Erfüllung an. Alles an diesem Platz hat nach mir gerufen und, egal, wie verwildert er war, ich habe meinen eigenen Weg hierher gefunden! Mein Ziel, mein Weg, ich verstehe die Flaschenpost
des Dorfdichters immer besser. Doch jetzt rasch, es wird Zeit, eine weitere Entscheidung zu treffen. Ist der Ort
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