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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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sicher?
    Der Geschmack von Bratäpfeln macht sich auf meiner Zunge breit, Zimtgeruch scheint aus jeder Ritze des Holzes zu dringen. Dicke Tontassen mit starkem, würzigem Schwarztee entstehen vor meinem geistigen Auge sowie ein flackerndes, warmes, offenes Feuer, an dem ich die eiskalten Hände wärmen kann.
    Oh, ich kann jetzt bestens verstehen, warum dieses nervige Geschwisterpaar den ersten besten Lebkuchen von einem fragwürdigen Hüttendach geklaut hat. Es kommt einfach der Punkt, wo man sich weit genug im Wald verirrt hat, um keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden, ob man Bären, Trollen oder leibhaftigen Knusperhexen über den Weg läuft. Hauptsache, es ist hell, warm und näher an der Realität als die feindliche NATUR im Mondlicht.
    Apropos Mond: Es grummelt unangenehm in meinen Eingeweiden, und ich habe die Befürchtung, dass mein imposanter Letzter Wille mittlerweile ganz und gar unleserlich ist. Angesichts dieser Tatsache und bestärkt durch die einladende Optik der Waldhütte, beschließe ich, es darauf ankommen zu lassen. Im schlimmsten Fall wohnt hier Baba Jaga höchstpersönlich, die große, böse Knusperhexe, dann komme ich zu einem Wellnessprogramm im Spezial-Kochtopf-Jacuzzi oder alternativ in der Backofensauna und werde mit Haut und Haaren aufgefressen. Mich müsste man ja auch nicht mehr mästen, das erspart mir wenigstens die lange Gefangenschaft inklusive der Geschichte mit den knorrigen Zweigchen als Fingerersatz. Meine körperliche Konstitution qualifiziert mich ohne Zweifel für den direkten Weg in Topf oder Ofen, je nachdem, welche kulinarischen Vorlieben die Bewohnerin dieses Luxustempels hat.

    Ich lächle bei dem Gedanken an dieses Szenario. Immerhin leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert, also ist es prozentual viel, viel wahrscheinlicher, dass ich ein nettes, altes Mütterchen vorfinde, das sich auf einem Plasma-TV Cashewnüsse knabbernd den Spätfilm ansieht. Es gibt heutzutage keine Hexen, so viel steht fest. Nicht außerhalb meiner dunklen, verworrenen Träume jedenfalls. Und wenn sich jemand mit Hexen auskennt, dann ich!
    Ohne weiter zu zögern, nähere ich mich der Hütte. Ich versuche, durch eines der Fenster im Inneren etwas zu erkennen, doch die Scheiben sind schmutzig, sodass ich nur verschwommene Konturen sehe. Wer auch immer da drinnen lebt, extreme Pedanterie gehört nicht zu seinen Charaktereigenschaften und Fensterputzen kaum zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Äußerst sympathisch! Andererseits auch relativ normal. Ich frage mich, welche Gestalt die sagenhafte Inspirationsquelle haben mag. Nirgendwo in der Nähe höre ich Wasser plätschern. Ob sie noch tiefer im Wald verborgen liegt? Wo?
    »Möchtest du zu mir, mein Kind?«
    Schuldbewusst zucke ich zusammen. Ich war so vertieft in meine Überlegungen, dass ich weder die Tür noch die Schritte gehört habe. Die alte Frau neben mir ist etwas kleiner als ich und mustert mich von der Seite. Sie trägt einen dunklen Umhang, unter dem ihr Rücken leicht krumm wirkt. Strähnen langer grauer Haare schauen unter der Kapuze hervor, während das Gesicht selbst im Schatten verborgen bleibt.
    »Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich, hm, ich will nicht stören oder so, aber ich fürchte, ich habe mich in diesem Wald verirrt. Können - würden Sie mir helfen, Frau, äh, Frau …«

    »Viele Namen hatte ich seit Urzeiten, aber im Ort nennt man mich einfach die alte Frau Wurd, Sibylle Wurd«, sagt sie freundlich, während sie mir eine winzige, zerbrechliche, sehr faltige Hand hinstreckt. Mit der anderen hält sie einen Stock umklammert, auf den sie sich stützt.
    »Olivia Kenning«, antworte ich schnell und ergreife die Hand, die angenehm trocken ist. »Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, Sie so spätnachts zu belästigen. Ich irre schon eine ganze Weile in diesem Wald herum, und als ich das Licht in Ihrer … äh, in Ihrem Haus gesehen habe, bin ich darauf zugelaufen.«
    »Ich weiß, ich weiß.«
    Sie lacht leise. Fasziniert sehe ich sie an, da sie nun ihr Gesicht der Hütte zugewendet hat und im Licht der Laterne steht. Ihre Haut ist braun und so runzlig, dass sie an altes Pergament erinnert. Tief in den Höhlen glänzen zwei intelligent blickende Knopfaugen, und darunter sitzt die klobigste Hakennase aller Zeiten, schnabelartig und, in alter Tradition, verziert mit einer fleischigen Warze rechts vom Nasenrücken. Der Mund ist schmal, das Kinn läuft spitz zu, kunstvoll umrahmt von mehreren Leberflecken sowie einem

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