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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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tun hat? Bin ich meinem Ziel bereits näher, als ich dachte? Ist der Met mehr als nur Honigwein? Aber andererseits, was, wenn das Getränk gesundheitsschädlich ist? Was, wenn …
    Frau Wurd sieht mich forschend an, geht zum Kessel und rührt liebevoll mit dem Löffel um.

    »Das Geheimnis liegt in der Wahl der Gewürze. Ihre Kraft wird vom Met angenommen, anschließend reift er viele, viele Jahre unberührt. Je älter er wird, desto vielfältiger sind seine Wirkungsweisen. Dieser etwa, den du gerade so kunstvoll nicht trinkst, ist relativ jung, doch es gibt Weine, vor denen muss man sich in Acht nehmen, so groß ist ihre Kraft.«
    Sie hebt ihre Hand, woraufhin meine mechanisch den Becher an meine Lippen führt. Die heiße, würzige Flüssigkeit rinnt wie von selbst in meinen Mund, und unwillkürlich schlucke ich. In weniger als vier Sekunden ist es vorbei. Hexenkunst.
    Fasziniert und abgestoßen zugleich beobachte ich die alte Frau am Feuer, die plötzlich größer wirkt als noch gerade eben. Der gefährlich wohlschmeckende Trank breitet sich warm in meinem Körper aus. Eine Wirkung stelle ich sofort fest. Der Met mag jung sein, doch sein Alkoholgehalt ist verflucht hoch! Mein Kopf fühlt sich leicht an, und das Flackern im Raum scheint stärker geworden zu sein.
    »Setz dich, mein Kind! Es ist Zeit, die Runen zu werfen.«
    »Die Runen? Aber ich …«
    »Nur keine Sorge. Um alles andere kümmern wir uns später.«
    Sie deutet auf das Tuch auf dem Boden. Ohne den geringsten Widerstand beugen sich meine Knie wie von selbst, und ich lasse mich neben dem Tuch nieder. Ein Gefühl von Unwirklichkeit hat sich eingestellt. Die erschöpfende Wegsuche im Wald, der heiße Alkohol, der Charme des Hexenhauses, all das bringt mich dazu, die Dinge weniger als sonst zu hinterfragen. Oder aber es ist etwas im Raum, das meinen Willen lähmt, eine Macht, so alt wie die Welt …
    Frau Wurd holt einen Schemel unter dem Tisch hervor und hockt sich mir gegenüber darauf. Aus einer Tasche ihres Kittels
zieht sie einen alt aussehenden Lederbeutel und hält ihn vor ihr Gesicht, auf dem sich nun kein Lächeln mehr zeigt, sondern tiefe, schattige Furchen wie in der Rinde des Baumes. Ihr langes, graues Haar hängt daran wie die Äste einer knorrigen Trauerweide.
    »Eine Esche weiß ich, im Herz des Waldes. Den hohen Baum netzt weißer Nebel. Davon kommt der Tau, der in die Täler fällt. Immergrün steht er über Urds Brunnen. Von dort kommen Frauen, Vielwissende. Sie schnitten Stäbe aus den Wurzeln, die in die Tiefe führen. Urd hieß die eine, die andere Werdandi, Skuld die dritte. Sie legten Lose, die den Menschen das Schicksal verkündeten.«
    Ich starre sie verblüfft an. Mit einer für ihr Alter erstaunlich schnellen Bewegung dreht sie den Beutel um, aus dem zwei Handvoll länglicher Holzstäbe auf das Tuch fallen. In die Stäbe sind sonderbare Zeichen eingeritzt, mit denen ich nichts anfangen kann.
    »Drei Stäbe musst du ziehen.«
    »Aber ich …«
    »Zieh!«
    Ein Befehl, den man nicht missachtet. Ängstlich blicke ich von Frau Wurd zu den Stäben.
    »Egal, welche?«
    Die Hexe sieht mich aus glasigen Augen an.
    »O nein, egal ist es keineswegs. Die Stäbe, die dein Herz dir weist. Urd wird den ersten Stab dir deuten!«
    Ich betrachte den chaotischen Haufen Holzstäbe. Das ist ja mal wieder die richtige Aufgabe für mich. Darin, lebenswichtige Entscheidungen zu treffen oder unter zwanzig schwarzen Hosen die richtige zu finden, war ich immer schon eine Null.
An manchen Tagen muss ich mittels Selbstauslöser Fotos von mir in verschiedenen Outfits machen und per E-Mail an meine Freundinnen verschicken, um entscheiden zu können, was ich anziehen soll. Und so jemandem gibt man die Anweisung, aus einem Haufen Holz ein Stück Holz auszusuchen …
    Ich seufze und greife nach einem besonders dunkel gemaserten Stab, auf dem eine Art spitzer Hut zu erkennen ist. Frau Wurd nimmt ihn mir aus der Hand und sieht ihn lange an. Schließlich hebt sie den Kopf und betrachtet mich gründlich. Mir fällt das Atmen schwer unter ihrem Blick.
    »Der Dorn ist die Qual der Frauen.«
    »Oh, ich dachte, es sei ein Hut.«
    »Das liegt daran, dass du es verkehrt herum betrachtest. Solche Runen haben ihre eigene Bedeutung, und diese nennt sich Thurisaz oder der Dorn. Deine Ängste haben dich in den letzten Jahren blockiert. Gefahr und schlimme Feinde haben deine Wege gekreuzt, und in Beziehungen hast du nichts als Kummer und Enttäuschung erlebt.«
    Ich nicke

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