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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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dem man nicht ansieht, aus welcher Wurzel er spross? Wurzeln, Baum, Tür, in dieser Hütte geht eines ins andere
über. Aber wenn dem so ist, dann liegt die Antwort hinter der Tür! Hinter der Tür, die nur wenige Schritte entfernt …
    »Du magst doch etwas Met, mein Kind?«, höre ich Frau Wurds Stimme aus dem Nebenraum. Keine Sekunde später tritt sie durch den Durchgang, in jeder Hand einen einfachen Metallbecher. Schnell wende ich mich von der Baumstammtür ab.
    »Ich habe bisher noch nie einen probiert. Schmeckt er so ähnlich wie Punsch oder Glühwein?«
    Frau Wurd stellt die Becher auf dem Tisch ab, greift nach einem riesigen Kochlöffel und rührt das Gebräu in dem Kupferkessel kräftig um.
    »Ist das der Met, den Sie da kochen?«
    Frau Wurd stößt ein krächzendes Geräusch aus, das entfernt an ein Lachen erinnert.
    »Was weißt du über die Kunst der Metherstellung?«
    »Oh«, ich erkenne eine deutliche Lücke im Bereich meines Allgemeinwissens, »nicht viel. Met wird aus Honig gemacht, oder?«
    Die alte Frau nickt und lächelt, während sie etwas von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in die Becher schöpft. Ich habe keine sehr hohe Meinung von Hexentränken, daher beobachte ich den Vorgang eher misstrauisch.
    »Honig, das ist richtig. Doch nicht etwa beliebiger Honig, o nein. Mein Met wird aus dunklem Waldhonig gemacht, daher auch das kräftige, harzige Aroma. Koste!« Sie hält mir einen Becher hin. »Er wird dich stärken, deinen Durst stillen und die Krämpfe lindern, die dich quälen.«
    »Aber woher …?«
    »Die Hexe ist ein zyklisches Wesen, sie weiß über die Phasen der Natur ebenso Bescheid wie über die Phasen des menschlichen
Körpers. Trink nur, trink, keine Angst, das ist weiße Magie.«
    Ihre Stimme ist schmeichelnd. Vorsichtig hebe ich den Metallbecher und atme tief ein. Das Getränk riecht köstlich. Es hat eine dunkle, schwere Süße, die ein wunderbares Honigaroma enthält. Ließe sich der Geruch des Waldes in einer Flüssigkeit konzentrieren, genau so würde sie riechen. Da ist taufeuchte Erde, grüner Klee, Moos, noch weiches Tannenharz und etwas anderes, eine feine Note von - was? - erloschenem Feuer? Ich versuche, diesen Duft festzuhalten, doch er verschwindet im Bouquet des Getränkes. Ich sehe Frau Wurd an.
    »Was meinen Sie mit weißer Magie?«
    Der süße Metdampf in meiner Nase ist gefährlich angenehm. Beinahe hätte ich getrunken! Beinahe!
    »Weiße Magie ist Magie, die auf positive Veränderungen ausgerichtet ist.«
    Frau Wurds Augen begegnen meinen. Ich erwarte ein kaltes Blau, das eisige Blau aus meinen Träumen (Saunatauchbecken!), doch zu meiner Überraschung funkeln sie in einer dunklen Bernsteinfarbe, ähnlich wie der Met.
    »Im Gegensatz zur schwarzen Magie, die negativ wirkt.«
    »Aber Veränderungen«, werfe ich ein, »gibt es hier wie da?«
    »Das stimmt.«
    Die Hexe wackelt mit dem Kopf.
    »Aber alles um uns verändert sich permanent. Wir verändern uns ebenso. Was spricht also dagegen, sich die Macht der Veränderung zunutze zu machen?«
    »Ist Veränderung denn gut?«
    Zum ersten Mal wirkt Frau Wurd im flackernden Kaminfeuerschein nicht alt und gebrechlich. Kein nettes Mütterchen,
keine urige Kräuterhexe, sondern ein gefährlich mächtiges Wesen spricht mit ihrer Stimme.
    »Sie ist einfach, mein Kind, nicht mehr, nicht weniger, sie ist seit Urzeit, und sie wird immer sein. Neun Nächte lang wuchs mein Baum zu dieser Größe, doch er wächst weiter, verändert sich in Ewigkeit.«
    Unwillkürlich wandert mein Blick zu dem Baum und seiner sonderbaren Tür hinüber. Was wohl dahinter ist? Zu gerne würde ich das Rätsel lösen, das der Wolf mir aufgegeben hat. Ich denke an die Quelle der Inspiration. Ob ich die Hexe einfach danach frage?
    »Frau Wurd …«
    »Trink nur, mein Kind! Ich braue Met, seit der Baum Wurzeln geschlagen hat, seit uralten Zeiten. Das Prinzip ist leicht erklärt: Hefe wandelt den Zucker des Honigwassers in Alkohol um. Mit ein wenig Geduld und den richtigen Zutaten hat man in zwei, drei Wochen einen einfachen Met angesetzt. Doch das ist nur die Hälfte des Prozesses. Das Geheimnis ist die Veredelung!«
    Frau Wurd hat ihre Stimme gesenkt. Der Schein des flackernden Feuers bringt ihr Gesicht zum Leuchten, ihre enorme Hakennase wirft einen schiefen Schatten auf ihre Wange, der unheimlich aussieht.
    »Die Veredelung?«
    Ich gebe mir Mühe, beiläufig zu klingen, und betrachte die Flüssigkeit. Kann es sein, dass der Met etwas mit der Quelle zu

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