Jagdzeit
aufmunternd zu. Wäre nicht der blitzende Kauzblick, wäre sie beinahe harmlos.
»Oh, du hast ganz recht, mein Kind, ich bin eine Hexe. Aber ich bitte dich, könnten wir das drinnen besprechen? Der kühle Nachtwind ist absolut tödlich für mein Kreuz.« Sie zwinkert listig. »Hexenschuss!«
Motzmarie und ich schnappen beide nach Luft. Die Hüttentür quietscht in den Angeln, als Frau Wurd sie ganz öffnet und im Inneren verschwindet. Wie? Kein Zauber? Kein Zwang? Keine unsichtbaren Hände oder verhexte Fußfesseln? Nicht einmal Blitz und Donner? Nur ein Schritt von draußen nach drinnen? Das ist alles?
Nach einem letzten Blick auf den goldenen Hahn über der Tür hole ich tief Luft und folge der Hexe in ihr Hexenhaus. Ich könnte schwören, das eine Goldauge hat mir warnend zugeblinzelt.
Ich muss mich ein wenig bücken, da der Türstock sehr niedrig ist. Sobald ich über die Schwelle bin, verlässt mich mein Unbehagen kurzfristig, und ein Gefühl kindlicher Freude macht sich breit. Das ist nicht einfach nur ein Hexenhaus, o nein, es ist DAS Hexenhaus, bis ins kleinste Detail wie direkt aus einem
Katalog für eine Innenausstattung nach Grimms Märchen importiert: Die Holzdielen sind alt, abgelaufen und knarren bei jeder Bewegung. An der hinteren Wand befindet sich ein gemauerter Kamin, wo ein offenes Feuer fröhlich vor sich hin prasselt, während in einem Kupferkessel darüber eine Flüssigkeit mit reichlich Rauchentwicklung kocht und einen würzigen Geruch verbreitet. (Das Blubbern!) Vor dem Kamin steht ein hölzerner Schaukelstuhl, der, mit weichen Fellen und flauschigen Decken ausgelegt, einladend und viel benutzt aussieht. An den Wänden befinden sich teils äußerst wackelige Regale, in denen staubige, antiquarische Bücher neben diversen Tiegelchen, Fläschchen, Töpfchen und ähnlichen Behältnissen stehen, die allesamt mit Kräutern gefüllt zu sein scheinen. Zwischen den Gegenständen haben Generationen von Spinnen ausgiebig an einem dichten Gespinst künstlerisch wertvoller Spinnweben gearbeitet. Die Fenster sind, wie schon von außen festgestellt, so schmutzig, dass man beim besten Willen nicht hindurchsehen kann. Im gesamten Raum herrscht ein charmantes Chaos. Etwa ein Dutzend Paare verschiedenfarbiger Pantoffeln verteilen sich über die Wohnfläche, wobei nie zwei gleiche nebeneinanderstehen. Kerzenstummel in diversen Größen liegen auf einem Haufen. Ein wackliger Holztisch in der Mitte sowie alle vier Sessel um ihn herum biegen sich unter dem Gewicht schwerer Buchstapel, die bis zu einer Höhe von gut eineinhalb Metern aufgetürmt sind. Hexen-SUB? Dazwischen Schreibutensilien, Murmeln, Geschirr, leere Flaschen sowie ein Körbchen mit frischen Kräutern. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Möbelstücke je zu ihrem eigentlichen Zweck genutzt wurden. Dafür ist, als einziger gerümpelfreier Platz, auf dem Boden neben dem Tisch ein erstaunlich sauberes
weißes Tuch ausgebreitet, auf das sonderbare Schriftzeichen und Linien gemalt sind.
An der Wand, die der Hüttentür gegenüberliegt, befindet sich ein Durchgang. Ich vermute, dass es dort in die Küche und den Vorratsraum geht, denn Frau Wurd ist dahin verschwunden, und ich kann sie mit diversem Geschirr klappern hören. In einer Nische daneben steht ein Regal, das deutlich sauberer aussieht als die anderen und sonderbare Gegenstände enthält, deren Zweck mir nicht klar ist, die aber, so vermute ich, unter den Oberbegriff Hexenutensilien fallen. Bei näherer Betrachtung kommen mir einige davon seltsam vertraut vor, als hätte ich sie schon zuvor irgendwo gesehen. Ein kleiner, altmodischer Handspiegel mit goldenem Griff liegt ganz obenauf. Mein Herz klopft schneller, und rasch wende ich mich ab. Hathors Spiegel. Woher dieser Gedanke bloß kommt? Ich weiß es nicht.
Am erstaunlichsten jedoch ist der von mir aus gesehen linke Bereich des Raumes. Hier wächst, aus einem Gewirr von Wurzeln, der Stamm des Baumes mitten aus dem Boden, füllt bestimmt ein Drittel der Fläche der gesamten Hütte und verschwindet oben in der Dachschräge, bis Stamm und Decke ineinander verschmelzend sich Richtung Baumkrone emporstrecken. Zwischen den beiden größten Wurzeln befindet sich eine kaum erkennbare Tür. Nur der Knauf und der feine Spalt heben sich ein wenig von der Rinde ab. Eine Tür, die ins Innere des Baumes führt!
Ich schnappe nach Luft. Die Stimme des Wolfes klingt in meinen Ohren: Was verbirgt sich hinter der Tür, die aus dem Holz des Baumes ist,
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