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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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der für die Reformierten eingetreten ist.«
    Gloria gähnte: »Ja, klingt sehr nachm 80-jährigen Krieg.«
    Sie stand auf und fing an den Tisch abzuräumen, obwohl Frank und Cecile noch aßen. »Streng genommen war dieser Wilhelm ein Idiot«, sagte sie, während sie ein paar Schüsseln in die Spülmaschine stellte. »Oder kein Idiot, sondern einfach ein komplexbeladener Mann, dem nicht so viel einfiel und dessen Lebenszweck darin bestand, genau das zu verbergen. Was ihm aber überhaupt nicht gelungen ist.«
    »Er war definitiv kein Idiot«, sagte Frank.
    »Nein, das war er nicht, du hast recht. Ein Idiot zu sein, das hätte er einfach nicht hingekriegt. Alles, was an ihm scheiße war, resultierte ausschließlich aus seinen Unsicherheitsgefühlen.«
     
    Gloria schlug etwas zu gewaltsam die Spülmaschine zu. Sie warf sich eine Jacke über, sagte »Gute Nacht, es soll übrigens gewittern, später« und rief nach ihren beiden Hunden, um mit ihnen durch eine vom Esszimmer abgehende Glastür nach draußen zu gehen. Ihr Vater aß stillschweigend weiter. Cecile saß noch einige Minuten ungeduldig auf ihrem Stuhl rum und verabschiedete sich dann ebenfalls. Als sie gerade an dem Durchgang zur Eingangshalle angekommen war, rief Frank ihr hinterher, ob sie nicht Lust hätte, sich das ausgegrabene Stück eines vor achtzig Jahren auf dem Grundstück abgestürzten Air-Force-Flugzeuges anzusehen. Sie tat so, als hätte sie ihn nicht gehört, und ging durch zwei dunkle, mit Bücherwänden zugestellte Flure auf das Treppenhaus zu, das zu ihrem Zimmer führte. Auf der zweiten Stufe der Treppe stand inzwischen ein Aschenbecher mit drei Zigaretten, neben dem ein Zettel lag. In der unstrukturierten Kinderhandschrift ihrer Mutter entzifferte Cecile die Aufforderung: »Tu Frank bitte einen Gefallen und schmeiß die Kippen nicht ins Gras«. Sie stellte den Aschenbecher auf die Fensterbank, das Geräusch von auf Marmor geknalltem Messing hallte durch den ganzen Flur. Sie lehnte sich an die Wand, zündete sich die Zigarette an, die sie sich vor dem Abendessen hinters Ohr geklemmt hatte, und starrte auf ein hinter einem wahllos platzierten Billardtisch angebrachtes Wandregal. Erst als die Zigarette gefährlich nah an ihrer Haut brannte und sie sie aus Reflex auf den Teppich fallen ließ, realisierte sie, dass sie kein einziges Mal an ihr gezogen hatte. Cecile drückte die Zigarette aus, schmiss die Kippen aus dem Aschenbecher hinterher und kehrte sie mit dem Fuß zu einer kleinen Aschepyramide zusammen. Dann ging sie auf das Wandregal zu. Auf Zehenspitzen zog sie einen kleinen Karton hervor, der hinter übereinandergestapelten Reiseführern versteckt war und aus dessen oberer Öffnung ein bronzener Elefantenrüssel ragte. Sie holte den kleinen Elefanten aus der Styropormasse, er war so lang wie ihr halber Unterarm und die detaillierteste Skulptur, die sie je gesehen hatte. Der Rüssel horizontal ausgestreckt, was dem Elefanten irgendwie eine dominante Haltung verlieh. Eins seiner Vorderbeine war angewinkelt, an jedem Fuß hatte er sechs Zehen, und im Glanz der kubisch flächenzentrierten Metallstruktur spiegelte sein Gesicht die traurige Würde wider, mit der er hinnahm, von den Menschen besiegt worden und jetzt als lebloses Kunstwerk 500.000 Dollar wert zu sein. Cecile rannte nach oben, kehrte mit ihrer Reisetasche zurück, setzte sich neben den Elefanten auf die Treppe und beschloss, mit in ihren Armen vergrabenem Kopf, auf das Gewitter zu warten. Es dauerte nicht lange, höchstens eine Stunde, es war dann irgendwie trotzdem schon mitten in der Nacht, bis plötzlich feuchtwarme Luftschichten am Start waren, es begann zu hageln, und eine geschlossene Decke kilometerdicker, finsterer Wolken türmte sich vor der nächtlichen Version dessen auf, was Cecile früher Horizont und inzwischen nur noch Begrenzung genannt hätte. Von dem Fenster im Flur konnte sie die komplette Holsteinische Schweiz, oder was immer das war, überblicken, in die von einem gewaltigen Donner begleitet mehrere verästelte Lichtbögen gleichzeitig einschlugen, diese Blitze, die immer näher kamen und in deren Licht der Garten kein Garten mehr war, sondern eine aus Schlamm und Trümmern zusammengesetzte Erhabenheit. Sie hörte die Hunde bellen, zuerst gedämpft, dann in ihrer unmittelbaren Nähe, und spürte den explosionsartigen Durchbruch einer Schallmauer, auf den Linienstrahlungen folgten, diese flirrende Luft als Vorläufer einer mittelschweren Katastrophe, und wenige

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