Jage zwei Tiger
Sekunden später die ersten Ansätze von Flammen, in einigen hundert Metern Entfernung, genau dort, wo Jacques’ Bungalow stand. Jacques rannte in einem triefenden T -Shirt auf die Villa zu, eine Alarmanlage sprang an, danach eine zweite, Ceciles Handy klingelte, sie ging nicht ran. Es klingelte zwei weitere Male, sie stellte es lautlos. Als sie die Stimmen ihrer Eltern aus der Eingangshalle vernahm, übertönt von Jacques’ hysterischem Schluchzen, öffnete sie die Fenster, warf ihre Tasche raus und sprang hinterher. Sie landete auf den Knien in den Resten einer ehemaligen Zierhecke, kämpfte sich hoch und rannte, so schnell sie konnte, auf das erste der Tore zu. Innerhalb von Sekunden war sie komplett durchnässt, und der Regen lief ihr so penetrant das Gesicht runter, dass sie sich blind an den Gittern des Tors hochziehen musste. Irgendwann fand ihr Fuß an einer Verstrebung Halt, und von dort aus schmiss sie sich auf die andere Seite, auf der sie wieder im Matsch landete. Sie kämpfte sich weiter vor, zum nächsten Tor, das etwas höher und dadurch noch schwerer zu überwinden war. Den äußersten, das Grundstück von der Autobahn trennenden Zaun erreichte sie nicht über die gewundene Zufahrtsstraße, sondern rannte den steilen Waldhang hinab, genau auf eine Lücke zu, in der einer der Eisenstäbe ausgelassen worden und die dadurch breit genug war, um sich durchquetschen zu können. Dann stand sie an der Autobahn, mit dem Elefanten im Arm, und heulte. Aus irgendeiner Ferne konnte sie die Feuerwehrwagen hören. Ohne sich noch mal umzudrehen, lief Cecile in die entgegengesetzte Richtung.
9
Kais Mutter hatte immer verbrannt werden wollen, bereits im Alter von vier Jahren war ihm das von ihr eingeschärft worden und danach immer wieder, im Rahmen melancholischer Anfälle von Todessehnsucht und Panik vor Ungeziefer. Trotzdem organisierten Binky Schweigers beste Freundinnen fünf Wochen nach dem Unfall eine klassische Beerdigungszeremonie. Sie hatten durchwachsene Jobs in PR -Zusammenhängen und von Hippiefrisuren umrahmte Gesichter. Sie interessierten sich für Kokain und eigensinnige Klassensolidaritäten. Ihre Kinder waren im Grundschulalter und hätten jedem beliebigen Menschen auf die Aussage »Scheiße, ich hab Kopfschmerzen« den Ratschlag gegeben, nicht so viel ins Berghain zu gehen. Kai war von seinem Vater aus dem Krankenhaus abgeholt worden, in dessen gebraucht gekauftem Renault Twingo. Detlev hatte sich nie was aus Autos gemacht, eventuell, weil ihn Klischees ankotzten und ihm selbst nur ein Lamborghini fehlte, um von vornherein als Fleisch gewordenes Arschlochvorurteil eingeschätzt zu werden. Vor der Trauerfeier holte Detlev Kais restliche Klamotten aus dessen ehemaliger Wohnung. Kai konnte nicht mal den Hausflur betreten, ohne ohnmächtig zu werden. Seine Kleider füllten nur die Hälfte seiner Reisetasche aus, sein Spielzeug und die Bücher ließ er zurück, bis auf eine zerfledderte Ausgabe von H.P. Lovecrafts Berge des Wahnsinns , weil das bei ihm immer so ein Mark-Twain-Ding reaktivierte von wegen amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Das Streben nach Glück: Als Außenseiter erfolgreich irgendwelche widrigen Wasserwege stromabwärts entlangtreiben, besser ging’s nicht. In die Todesanzeige war ein originell gemeintes Verbot für schwarze Kleidung eingearbeitet worden, weshalb die Gäste alle Neonoutfits anhatten. Einige Mädchen aus Kais ehemaliger Schulklasse, die ihn damals entweder nicht beachtet oder im Sportunterricht beschimpft hatten, guckten ihn auf eine gänzlich neue Weise so an, als hätte er gerade eine Castingshow gewonnen. Die Familie seiner Mutter hatte sich geschlossen in die hinteren Bänken der Kapelle gequetscht, hässliche und zumeist zahnlose Leute aus einem Schützenverein im Sauerland, Tante Irmela zum Beispiel mit kreisrundem Haarausfall, oder seine Cousine, über die er nichts anderes wusste, als dass sie mal mit einem Nazi verlobt gewesen war und seitdem unter mehreren Herzfehlern litt. Kai sah die Teppichböden in den Reihenhauswohnungen vor sich und Edeltannen in Backyards auf zentimetergenau getrimmter Rasenmatsche. Er hielt seine Familie für durch das Bühnenbild ihrer eigenen Existenzen wackelnde Touristen, denen es um nichts anderes zu gehen schien als Kaffeekränzchen. Seine Großmutter erzählte ihm vom neuen Flippers-Album und wirkte, als würden ihr die bunten Satinblusen der Anwesenden mehr zu schaffen machen als der eigentliche Anlass,
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