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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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irgendwie.«
    Kai antwortete, das sei okay. Dann stürzte seine Großmutter so dramatisch über zwei Treppenstufen, dass er sie kurzzeitig für ebenfalls tot hielt. Man fraß grottenschlechte Torte. Es war das härteste Szenario, das Kai sich unter der Verabschiedung eines geliebten Menschen vorstellen konnte. Hätte er Sprengsätze unter seinem Pullover getragen, hätte er sie, ohne zu zögern, gezündet. Es wäre ein angemessenerer Tod gewesen als der seiner Mutter.

 
     
    10
     
    Der Asphalt glänzte vor sich hin, im Nieselregen, und Samantha lag wach, auf der ausziehbaren Verbreiterung eines Doppelstockbettes für Kleinkinder. Sie starrte durch das Wohnwagenfenster in den Scheiß raus, den sie dort zu erwarten hatte. Es war immer noch alles scheiße, und es würde auch scheiße weitergehen. Der Regen hatte die Erdritze zwischen den Steinplatten aufgeweicht, der Platz war überzogen von braunen Rinnsalen. Sie sah Menschen eine Luft atmen, auf die sie selbst inzwischen keinen Zugriff mehr hatte. Die Apokalypse war das Einzige, was ihr real erschien. Außerdem hatte sie heute Herpes. Ihre Mutter riss die Tür auf und stellte sich vor ihr Bett, in dieser Position hätte sie ohne weiteres den für sie sehr typischen Satz »Das Softeis ist sowieso verseucht« sagen können.
    Stattdessen schrie sie: »Kannst du mal bitte hinne machen jetzt?«
    »Mama, das ist schon wieder dieser ›Ich geh überall hin, wo ich nichts verloren habe, und stecke genau da meine Nase rein‹-Scheiß.«
    »Was?«
    »Lass mich in Ruhe, ich kann eh nicht ins Badezimmer.«
    »Warum denn nicht?«
    »Weil, der Rocco putzt sich da gerade seine Scheißzähne, und wenn ich anklopfe und selber sage: ›Mach hinne‹, sagt er ›Nein‹, und ich frage ihn dann, warum du mir gesagt hast, dass ich sofort aufstehen muss, und dann sagt er wieder: ›Weiß ich doch nicht, Mann, hau ab!‹«
    »Und kannst du dich dagegen denn nicht wehren?«
    »Nein, weil dann geht’s weiter mit irgendeinem Scheiß von wegen ›Beeil dich doch jetzt mal‹, und er nennt mich ›Fotze‹ und sagt, ich soll mich erst mal anziehen gehen, und wenn ich mich weigere oder irgendeinen Grund nenne, warum das jetzt nicht geht, sagt er: ›Quatsch mich nich voll, Alter‹, und ich sage: ›Ich muss duschen‹. – ›Ja, dann mach doch.‹ – ›Wenn de hier drinne bist, oder was?‹, frag ich dann. Und weißt du, was das Arschloch dann grundsätzlich antwortet: ›Mir doch egal, ich geh hier jetzt nicht raus, ich muss Zähne putzen.‹«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt gehst du entweder wieder weg oder bleibst zehn Minuten sitzen, damit ich wiederkommen und sagen kann: ›Ey, warum machst du mich denn schon wach, ich hab doch gesagt, ich kann noch fünf Minuten schlafen!‹«
    Die Mutter überlegte kurz, setzte sich dann auf Samanthas Schreibtischstuhl und antwortete: »Ja, weil du sonst nicht in die Pötte kommst, Samantha!«
    »Ich hab dir keine Frage gestellt –«
    »Aber –«
    »Was? Wenn du seine Lieblingssalami kaufst, will er Cornflakes, und wenn du Spaghetti Bolognese machst, stellt er sich in die Küche und rührt sich ne Packung Fertigkuchenteig an, der Junge ist krank.«
    »Der ist nicht krank. Guck mal kurz, ist das da oben ne Spinne?«
    »Das ist mein Vorhangstab. Oder meinst du das andere Ding?«
    »Nein, den Fleck da neben dem Lampenschatten.«
    »Das ist ein – keine Ahnung, ich glaube, es nennt sich Staubstritzel.«
    Die Haltung ihrer Mutter lockerte sich allmählich, trotzdem verkörperte sie noch immer diese bestimmte Art ihrem Umfeld mit Ignoranz begegnender Frauen, die nie gelernt hat, dass man mit der Heraufbeschwörung von Dramen irgendwann keine Aufmerksamkeit mehr, sondern nur noch genervte Blicke erntet. Eilkrit hatte eine Nummer mit weißen Tauben, die jeden Nachmittag auf Miniaturriesenrädern, Karussells oder Schaukeln gesetzt wurden. Letztlich war es Zufall, ob das wie Dressur rüberkam oder völlig aus dem Ruder lief, die Tiere machten nämlich das, was sie wollten, saßen dementsprechend meistens auf in der Zirkuskuppel angebrachten Scheinwerfern und schissen auf Köpfe. Jede von ihrem Ehemann verfasste E-Mail musste der Geste wegen von ihr Korrektur gelesen werden, obwohl sie Legasthenikerin war. Das bedeutete, dass Briefe an Förderer oder Projektleiter mit zwanzig Rechtschreibfehlern und in fünfzehn verschiedenen Schrift- und Farbvarianten verschickt wurden. Die letzte Mail an den Bürgermeister von Cuxhaven hatte mit folgender einem Axtmörder

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