Jage zwei Tiger
gegen dessen Traditionen sie sich auflehnten.
»Also bei uns geht man immer noch in Schwarz zu Beerdigungen«, sagte sie, und obwohl das nicht der einzige von ihr in Kais Richtung geäußerte Satz zu diesem Thema gewesen sein konnte, würde sich Kai in zwanzig Jahren an keinen anderen erinnern können.
In seinen Vater hatten sich zwangsläufig einige Girls verliebt, unter anderem Lucie Meyer, die einen bodenlangen Pelzmantel trug und aus ungerechtfertigten Gründen in der ersten Reihe saß. Als Detlev sie darauf ansprach, ob sie gerade versuche zu heulen, in dieser zu grell ausgeleuchteten Kapelle, brach sie in ein Kichern aus, das sie für den Rest der Zeremonie nicht mehr zu unterdrücken schaffte. Kai hörte die Reden, zwang sich zu einer Art über allem stehenden Lächeln und beobachtete einen Mann in der hintersten Reihe dabei, wie er gleichermaßen bitterlich und still in sich hineinweinte. Er wirkte wie ein ausrangierter Rockmusiker und als wäre seine Trauer keine Mitleidsperformance, sondern schmerzhaft. Zwei Stunden später würde Kai einen Briefumschlag von ihm in die Hand gedrückt bekommen, gefüllt mit 3000 Euro und der auf einen Post-it-Zettel geschriebenen Erklärung »Von jemandem, der Deine Mutter mal sehr geliebt hat«. Zuvor wurde jedoch der Song »Angel Wings« der Band Flying Skulls gespielt, aus schlechten Boxen und sieben Mal hintereinander, weil sich niemand um eine abwechslungsreichere musikalische Untermalung gekümmert hatte. Kai war willenlos zwischen den Sarg und ein schlecht aufgelöstes Foto seiner Mutter platziert worden, fragte sich, was er mit seinen Händen machen sollte, und starrte auf den Boden. Als er wieder aufblickte, war die Kapelle plötzlich leer, nur er stand noch da, handlungsunfähig und erschöpft. Er wollte den anderen hinterher nach draußen gehen, doch irgendein in Italien aufgewachsener Cousin kam ihm entgegen, freudestrahlend, um Kai in schlechtem Englisch mit einer Mischung aus Beileidsbekundungen und der Schilderung seiner Suche nach türkischem Essen zu begrüßen. Er war über zwanzig, augenscheinlich Folklorekiffer und vermittelte tatsächlich den Eindruck, als sei die Beerdigung seiner Tante nichts anderes als ein guter Grund, mal wieder einen deutschen Döner zu essen. Er nötigte Kai dazu, sich noch mal neben den Sarg zu stellen, damit er ihn mit seiner Mittelformatkamera fotografieren konnte. Kai ließ den Scheiß über sich ergehen, hätte aber eigentlich gerne geheult. Danach wurden ihm die Bilder vorgeführt, in dem kleinen Vorschaufenster des Fotoapparats, begleitet von unablässigem Schwärmen über den Weitwinkelmodus der neuen Canon HD . Kai starrte an der Kamera vorbei auf den Boden, weil er seinen eigenen Anblick nicht ertragen konnte. Als sein Cousin sich hinkniete, um die Kamera zurück in seinen Rucksack zu packen, rannte Kai raus. Von der Treppe zur Kapelle sah er seinen Vater mit dem Rücken zu ihm telefonieren. Er rauchte und ließ Worte fallen, die Kai noch nie zuvor gehört hatte: »Apokalypse«, »Postbayreuthisch«, »Dissonanzen, die sich einig sind«. Die anderen Gäste waren bereits hundert Meter der Beisetzungsstätte entgegengeschlurft, und etwas abseits dieser halb vernebelten Friedhofslandschaft erkannte Kai die Umrisse eines Mannes in Billo-Daunenjacke, der ihm bekannt vorkam. Er wirkte niedergeschlagen und als käme er sich zu uncool vor, um bei den anderen mitlaufen zu dürfen. Es war Marco, ein schwuler Kindergärtner, der vor langer Zeit mit Kais Mutter in einem Hort für Hauptschüler gearbeitet hatte. Marco war schwer übergewichtig, hatte einen Irokesenschnitt und war gekommen, um sich zu verabschieden. Da stand er nun mit verschränkten Händen, sein Gewicht alle fünf Sekunden vom einen Fuß auf den anderen verlagernd. Kai musste heulen, weil die Angst dieses Typen, unterhalb irgendwelcher Hierarchielevel eingeschätzt zu werden, der Katalysator für die Verdichtung seiner Erkenntnis war, dass die Welt scheiße, ungerecht und nur ein verdammter Zufall sein konnte.
Das hinterhergeschobene Get-together in einem von Binky favorisierten Steaklokal erlebte er irgendwie verzerrt. Kais bester Freund, der nach einem Frankreichurlaub zum alkoholabhängigen Heavy-Metal-Freak mutiert war und sich deshalb kaum noch gemeldet hatte, umarmte ihn kurz und entschuldigte sich für sein rotes »death at a funeral«- T -Shirt. »Es ist etwas unangemessen«, sagte er, »aber ich hab halt sonst keine Klamotten, die nicht schwarz sind,
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