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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Zusammenbruch nahe, weil sie ihr selbstverletzendes Verhalten plötzlich als einen schweren, kriminellen Akt zu empfinden begann. Sie fühlte sich, als hätte sie jemanden totgeschlagen, und das stimmte ja irgendwie auch, ein kleiner Teil von ihr war unwiederbringlich gestorben. Wenn auch nur ihre Unschuld oder ihre Integrität oder ihre Aufrichtigkeit oder ihre sogenannte Verbindung zur Außenwelt.
    Herr Schultheiss-Koch sagte ihr mit betroffener Miene, man müsse sich mal unterhalten, und führte sie ins Lehrerzimmer, um sie dort für zwanzig Minuten alleine zu lassen. Cecile unterhielt sich blendend mit ihrer am Kopiergerät verzweifelnden Deutschlehrerin über ein bevorstehendes Atomwaffenreferat, bis Herr Schultheiss-Koch zurückgerannt kam. Er schickte Cecile ins Büro einer als Vertrauenslehrerin bezeichneten Frau im schwarzen Wallawallakleid und verpisste sich erst mal. Zwei Jahre später würde er plötzlich einen silbernen Ring tragen, auf die Frage, ob er geheiratet habe, von seinem Ehemann erzählen und zur Belohnung für diesen grenzenlos zusammengenommenen Mut feststellen, dass er die erste Teenagergeneration unterrichtete, die Homosexualität zu langweilig fand, um jemanden deshalb fertigzumachen. Egal.
    Als die Vertrauenslehrerin fragte, was da mit ihrem Arm passiert sei, antwortete Cecile jedenfalls mit auf den Boden gerichtetem Blick: »Ich bin die Treppe runtergefallen.«
    Sie sprach diesen Satz leise und mit bewusst gebrochener Stimme aus.
    Sie hatte genug Vorabendserien geguckt, um zu wissen, dass er nicht geglaubt und ihr Vater von nun an für gewalttätig gehalten würde.
    Das war der eigentliche Plan gewesen, ohne dass sie ihn vorher hätte benennen können. Zwei Tage später stand das Jugendamt vor den Toren des damaligen Hauses ihrer Eltern, in Form einer mittdreißigjährigen uneingestandenen Lesbe, die von Kindesbeinen an als »etwas langsam« gegolten hatte und Sissi-Fan war. Bei keinem der Beteiligten führte dieser Kontrollbesuch zu etwas anderem als grenzenloser Verwirrung, aber das war okay. Cecile fand ihre Hämatome fantastisch, fotografierte ihren Arm mehrmals mit der digitalen Spiegelreflexkamera ihrer Zimmergenossin und wurde von einer tiefen Leere erfasst, als er langsam wieder harmlos auszusehen begann. An ihrem dreizehnten Geburtstag beschloss sie dann, logischerweise, schnellstmöglich erwachsen zu werden, woraufhin innerhalb weniger Wochen bedeutsame seelische Umstellungen erfolgten. Sie meldete sich als volljährige »pussygalore« in einem Sexchat an und verabredete sich mit mehreren Typen hintereinander am Busbahnhof der nächstgelegenen Kleinstadt. Dahinter lag ein verkommenes Waldgebiet, einer der wenigen Orte in dieser norddeutschen Provinzidylle, an denen man gelegentlich noch auf einen Cracksüchtigen stieß. Ihre Schulkameradinnen hingen während der dreistündigen Freizeit in Eisdielen oder bei H&M rum, Cecile von 15 bis 18 Uhr an einer Bushaltestelle, mit Gummitieren aus der Schulkantine, um dort mehrere Männer mittleren Alters am vereinbarten Treffpunkt lange zu beobachten und sich nicht zu erkennen zu geben. Auf den vierten, dem mit Abstand abstoßendsten von allen, über vierzig, eine Art Hawaiihemd am Leib, tölpelig-verlegen mit verschlafenen kurzsichtigen Augen und einer von seltsamen Beulen überzogenen Halbglatze, ging sie zu. Er war widerlich, und abgesehen davon, dass ihr die anderen in ihrer Halbattraktivität und dadurch bedingten Confidence Angst gemacht hatten, turnte dieser Schmutz sie an, vielleicht auch die Ahnung, da keinen sie konkret realisierenden Menschen vor sich zu haben, der sie durchschauen oder beleidigen könnte, eher eine Art Tier, dem selbst ein Kindergartenkind sexuell überlegen gewesen wäre. Der Typ kam vor lauter Aufregung gar nicht zur Erwähnung der Feststellung, dass sie definitiv nicht achtzehn sein könne, sondern lief tiefrot an und stotterte, dass er eine Decke mitgebracht habe. Cecile nickte anerkennend. Sie gingen stillschweigend und in einem Abstand von zwei Metern in das erwähnte waldähnliche Ding rein, er breitete die Wolldecke aus, riss sich mit dem Rücken zu ihr die Kleider vom Leib und brauchte zwanzig Minuten, um einen hochzukriegen. Erst auf dem Rückweg zur Haltestelle baute sich seine Verlegenheit ab, und er erzählte ihr, dass er Taxifahrer war und meistens nachts arbeitete. Tagsüber schlief er und sah fern, am liebsten diese Dokumentationen über Tierpfleger, wo dann zum Beispiel gezeigt wird, wie ein

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