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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Sarah-Jane gefragt, also am Telefon.
    »Was daran schlimm war? Dass die Wichser mich die ganze Zeit für ne Amsel gehalten haben, verdammte Scheiße!«
    Samantha hatte gelacht, Sarah-Jane hatte geweint, das Ganze irgendwann abgebrochen und mit einem Versicherungsbeauftragten aus Oberösterreich Zwillinge bekommen.
     
    Neben dem Tigerkäfig waren, aus schwer zu durchschauenden Gründen, die Pandabären untergebracht. Samantha beobachtete die Tiere mit der nötigen Ehrfurcht. Sie gähnten, reckten sich und gingen ein bisschen hin und her, doch beinahe die ganze Zeit über waren sie damit beschäftigt, ihren geliebten Bambus zu fressen.Sie saßen aufrecht und hielten die Bambusrohre in ihren Vorderpfoten, entfernten die Blätter und verzehrten die Seitentriebe, indem sie die Rohre zwischen einem offenbar beweglichen Daumen und den übrigen Fingern hindurchführten. Das stellte Samantha vor ein Rätsel. Die Menschen hatten den Daumen, dieses wichtige Element, von ihren Vorfahren unter den Primaten übernommen und sogar verstärkt, während die meisten Säugetiere es der Spezialisierung ihrer Gliedmaßen opferten. Fleischfresser rannten, stießen und kratzten. Ein Panda hätte Samantha eventuell psychologisch manipulieren können, aber nicht Schreibmaschine schreiben oder Klavier spielen. Sein Daumen war, anatomisch gesehen, überhaupt kein Finger. Er war aus einem Knochen gebildet, der als radiales Sesambein bezeichnet wird und normalerweise ein Bestandteil des Handgelenks ist. Sie beschloss, dass es sich dabei um eine komplexe, durch eine umfassende Neugestaltung der Muskulatur entstandene Struktur handeln musste, und ging dann zurück nach Hause, um zu spät beim Mittagessen aufzutauchen. Im Küchenwagen hatte sich Samanthas fünfzehnköpfige Familie auf die Ecksitzbank gequetscht. Eiche rustikal, alles und jeder. Ihr aus dem Krankenhaus zurückgekehrter Bruder hatte eine Schienenkonstruktion auf der Nase. Ihre kleinen Nichten trugen Reifröcke in Neonfarben und turnten an der Willkommensdeko herum. Pascal erzählte unter großem Gelächter, wie er im Krankenhaus aufgrund des anästhesiebedingten Matsches in seinem Hirn die Ärztin aufgefordert hatte, sich in sein Bett zu legen und von ihm schieben zu lassen. Als er Samantha sah, stand er auf und kämpfte sich aus der Mitte der Bank zu ihr vor, um ihr seinen Platz anzubieten. Bevor sie ihren Arm verloren hatte, hätte dieser Typ ihr kein anderes zuvorkommendes Angebot gemacht als das, seinen Arsch zu lecken, sie lehnte deshalb ab, nahm sich eine Kohlroulade und aß sie an die Küchenzeile gelehnt innerhalb sehr kurzer Zeit auf.
    »Was mich die ganze Zeit interessiert hat, Pascal«, fragte sie ihren Bruder dann irgendwann mit vollem Mund, »eigentlich geht man doch davon aus, dass man im Rahmen eines Reflexes die Hände nimmt und sich mit denen abstützt, wenn man so komisch fällt, oder?«
    Pascal antwortete: »Ja, zu besoffen dafür. Weißte, unglücklich gefallen, so seitlich das ist dann ja eh – und, aber, ähm – verlangsamte Reaktion.«
    »Ach ja? Ich hab dann da ja so – wart ihr da nicht sogar dabei?, wie ich so total betrunken noch die Porzellanfigur aufgefangen habe, im Sturz sozusagen?«
    »Nee.«
    »So bin ich ja dann, wenn ich betrunken bin. So ne Porzellanwurst ist da plötzlich so oben von dem Regal von Tante Ute runtergesegelt, und ich hab dann die so in einer blitzschnellen Reaktion aufgefangen. Kurz vorm Boden.«
    »Nicht zu glauben.« – »Was für ne Porzellanwurst?« – »Seit wann trinkst du überhaupt Alkohol?« – »Mama!« – »Du bist hier die, die immer was von wodkadurchtränkten Tampons in irgendwelchen Arschlöchern erzählt.« – »Das hatte ich aus der Zeitung zitiert!« – »Warum haben die dir eigentlich nicht so ne Stupsnase verpasst, wenn sie da schon alles aufmeißeln mussten?« – »Fändest du das etwa toll?« – »Wenn Pascal jetzt so ein kleines Näschen gebastelt bekommen hätte, das nach oben zeigt?« Alle außer Pascal nickten.
    Irgendwann ging es plötzlich um Thunfischcarpaccio von Aldi, niemand wusste warum, als Samantha im Halbdunkel des Sonnenuntergangs einen Schatten unterhalb des Wagenfensters wahrnahm. Als sie fragte, was das da draußen sei, rechnete ein Großteil der Familie grundlos mit einem Axtmörder. Der Raum verstummte, sodass man durch die halb geöffnete Tür hektisch davonrennende Schritte hören konnte. In deren Sound lag tatsächlich was Bedrohliches. Samanthas Vater, der bisher geschwiegen

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