Jage zwei Tiger
Drahtseil entlanggeführt zu werden. Sie banden sich Polyestertücher um die Stirn und sahen alle sehr beknackt aus. Nach und nach wurden sie von ihren Eltern eingesammelt und weggefahren, keine Ahnung wohin, wahrscheinlich zur Stadtranderholung. Während Samantha das beobachtete, abgeschottet hinter einer Ansammlung dicker Kastanienbäume, durchfuhr sie eine tiefe Traurigkeit. Der Platz, auf dem das Zelt stand, war ein unebenes Rondell inmitten des Stadtparks, an dessen hinterem Ende sich ein denkmalgeschützter hoher Turm befand. Er sah aus wie die kleinere und gradere Version des Pisa-Wahrzeichens. Monatlich sprangen da mindestens ein bis zwei Menschen runter. Der Zirkus stand hier jedes Jahr in den ersten beiden Augustwochen. Letztes Mal hatte Samantha ein Mädchen springen sehen, vierzehn Jahre alt, mittags um zwölf, das keinen objektiv als Problem zu bewertenden Grund für ihren Selbstmord hätte angeben können. Es war fantastisch in der Schule und eins der Supergirls gewesen, an die sich die unteren Stufen noch dreißig Jahre später als Sexsymbol erinnern würden. In dem Abschiedsbrief des Mädchens stand Gerüchten zufolge, dass sie realisiert habe, nichts für diese Welt mehr tun zu können, und ihr deshalb nichts anderes übrigbleibe, als dem ganzen Scheiß ein Ende zu setzen. Sie sei ihr Leben lang von einem unbezwingbaren Willen getrieben worden, der nichts mit ihrem »Selbst« zu tun gehabt hätte, sondern ein metaphysisches Werk des Teufels gewesen sei. Dieser Teufel wiederum hatte nie was anderes gewollt, als uns alle in ein unaufhörliches Netz des Begehrens zu verstricken, so lange, bis irgendwann auch der kleinste Rest unseres angeborenen Verstandes dahingehend entkräftet war, dass er nie existiert hatte.
Wie sich rausstellte, hatte das Mädchen ein bisschen zu exzessiv Schopenhauer gelesen. Das wusste Samantha jedoch nicht, sie hielt dieses Verhalten für den bewundernswerten Impuls eines mutigen Menschen, sich selbst als unverändertes Wesen beibehalten zu wollen.
An das andere Ende des Platzes grenzte die Papageienvoliere eines Tierparks, in dem Samantha noch nie gewesen war. Ihr war nicht klar, ob es mit irgendeinem nagenden Weltschmerz oder mit Wissensdurst zu tun hatte, jedenfalls haute sie schließlich ihr Sparschwein kaputt und kaufte sich ein ermäßigtes Ticket ohne Aquariumzugang. Normalerweise brauchte sie kein Geld, Klamotten bekam sie von ihren Schwestern oder zu Weihnachten, Süßigkeiten wurden massenweise von Elternteilen eingekauft, Drogenerfahrungen hatte und wollte sie keine. Der Tierpark war menschenleer, es wirkte fast, als sähen die eingesperrten Viecher nicht ein, für eine einzige verkrüppelte Person irgendwelche rassespezifischen Verhaltensweisen an den Start bringen zu müssen, die meisten der Tiere schliefen oder hatten sich in nicht einsehbaren Einbuchtungen verkrochen. Samantha blieb lange am Tigergehege stehen. Sie hatte nie verstanden, warum sich die Menschheit von Raubkatzen so fasziniert zeigte, ihr Onkel war bei einem bayrischen Showzirkus als Dompteur angestellt, und vor allem die Tiger waren Samantha immer nur arrogant und dumpf vorgekommen. Sie musste bei ihrem Anblick jedoch an ihre Lieblingsschwester denken, die aus dem ganzen Schaustellerquatsch ausgebrochen war und sich, anstatt irgendeinen Achterbahnunterhalter oder Puppenspieler zu heiraten, als Befreiungsakt an einer klassischen Schauspielschule in Wien beworben hatte. Jeden Tag hatte sie Samantha angerufen, weil sie es dort fast noch mehr gehasst hatte als zu Hause, diese Gestenhaftigkeit einer nur des Trockenschwimmens wegen existenten Performance. Sarah-Jane galt als untalentierter, als man sie eingeschätzt hatte, nicht weil sie es war, sondern weil sie mit den Strukturen nichts anfangen konnte. Sie wurde von ihren Mitstudenten aufs Gröbste allein gelassen und nahm innerhalb von vier Wochen zehn Kilo zu. Eines Tages erzählte sie Samantha am Telefon, dass sie die Aufgabe bekommen habe, die Rolle der Penthesilea als frei wählbares Tier zu erarbeiten. Sie war also unmotiviert in den Zoo gegangen und hatte sich die ganzen blöden Tiere angeguckt und sich dann für einen Tiger entschieden, so schwer ihr dieser ganze Method-Acting-Quatsch in einem derartig demütigenden Kontext auch fiel. Als sie den Scheiß dann vorführte, bekam sie zum ersten Mal Applaus. Die Leute drehten durch ob ihres Auftrittes und hielten ihn für enorm gelungen.
»Und was ist jetzt so schlimm daran?«, hatte Samantha
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