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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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hatte, sprang auf und zur Tür hinaus auf die vergitterte Terrassenkonstruktion. Nach geschätzten drei Sekunden kam er mit herabhängendem Kopf wieder zurück. Irgendjemand fragte, wer da gewesen sei, doch der Vater zuckte nur mit den Schultern, nahm seine Jacke von der Garderobe und gab mit einer stummen Geste zu verstehen, dass er jetzt die Tiere füttern müsse. Die Jungs rissen das Fenster auf und lehnten sich raus, Samantha wurde unausweichlich mit Roccos halbem Arsch konfrontiert. »Ach so, Scheiße –«, sagte Rocco enttäuscht und ließ sich zurück an den Tisch fallen. »Wer ist es? – Wer war da?« – »So ein Mädchen.« – »Ja, toll, was für eins?« – »Guck selber.«
    Sie kämpfte sich zwischen Tischkante und mehreren aneinandergequetschten Oberschenkeln zum Fenster durch. In fünfzig Metern Entfernung stand ein höchstens achtjähriges Mädchen in zu kurz gewordenen Hosen und einem Sweatshirt, von dem ein Sesamstraßenaufdruck abblätterte. Es hatte offensichtlich wegrennen wollen, war aber vor lauter Angst, ertappt zu werden und bald einer gewaltigen Strafe ausgesetzt zu sein, wie gelähmt stehen geblieben. Die Haare waren fettig, ihre Körperhaltung unter aller Sau und die derart klischeehafte Offensichtlichkeit ihrer Verwahrlosung vermutlich der Grund, weshalb sie niemand niedlich genug fand, um rauszugehen und zu fragen, was passiert sei. Obwohl man daran gewöhnt war, in Zusammenhängen zu leben, die für Fremde jederzeit zugänglich waren, sorgte dieses Kind für kollektives Unbehagen. Niemand sagte etwas, bis Pascal die Scheinfrage stellte, ob man das Mädchen hier schon mal gesehen habe. Ja, irgendwie schon, darauf einigten sich alle, und irgendjemand sagte: »Hatten wir das nicht neulich schon mal?«, und alle lachten. Als sich Samantha noch mal nach dem Mädchen umdrehte, war es verschwunden. Ihre Mutter servierte eine Art halbaufgetaute Buttercremetorte zum Nachtisch, und Toypudel Tequila erlitt einen asthmatischen Anfall, doch das waren Vorgänge, zu denen sich alle routiniert zu verhalten wussten.
    Vier Tage später begegnete Samantha dem Mädchen zum zweiten Mal, um sieben Uhr morgens bei einem Hundespaziergang durch den Stadtpark. Sunrise und Tequila hockten winselnd vor einer großen Fichte, in deren Krone sich zwei Eichhörnchen geflüchtet hatten. Samantha setzte sich ins Gras, um eine zu rauchen, als sie auf der gegenüberliegenden Seite des Ententeichs die Umrisse einer kleinen Gestalt wahrnahm. Das Mädchen schien sich unbeobachtet zu fühlen, trug noch immer dieselben Klamotten und spazierte mit als Schutz vor der Kälte um ihren Körper geschlungenen Armen den Fußweg entlang bis zu einer Abbiegung, von der aus Samantha sie nicht mehr sehen konnte.
     
    Am Nachmittag feierte ihr Neffe seinen sechsten Geburtstag, zu dem er einige Jungs eingeladen hatte, die für diese Woche seine Freunde waren. Als Samantha irgendwann aus Langeweile im Zelt nachsah, was da so stattfand bei den präpubertären Typen, war es leer. Pascal hatte sich der Umsetzung des ersten ihm in den Sinn gekommenen Gesellschaftsspiels gewidmet, es hieß Schwänzchenfangen. Beim Schwänzchenfangen musste normalerweise wild durch die Gegend gerannt werden mit in den Hosenbund gestecktem Krepppapier, und derjenige, der es schaffte, den meisten seiner Mitspieler ihr Krepppapierschwänzchen zu entreißen, war am Ende der Sieger. Pascal hatte fieberhaft nach entsprechendem Papier gesucht, aber leider nur Glaswolle gefunden. Jeder Mensch wusste, dass im Umgang mit Glaswolle aufgrund deren Juckreiz auslösenden Dampfdiffusionswiderstandes äußerste Vorsicht geboten, sprich direkter Hautkontakt unbedingt vermieden werden musste, nur Pascal nicht, die Kinder waren also alle fröhlich rumgerannt und hatten sich fantastisch amüsiert, bis sie sich plötzlich eins nach dem anderen unaufhörlich am Arsch zu kratzen begannen, einige laut schreiend, andere energisch mit hochrot angelaufenen Köpfen und zusammengekniffenen Lippen wie im Kampf gegen etwas, das sich eventuell besiegen ließe. Samantha traf die Hälfte der Geburtstagsparty in dem vom Stubenwagen abgehenden, sechs Quadratmeter großen Waschwagen an, in dem Pascal versuchte, vier nackte Kinder auf einmal in die Badewanne zu stecken, den Tränen nah. Der Rest der Jungs, ebenfalls nackt, rannte über den Platz und schrie »Aua«. Samantha musste lachen, aber gelegentlich schaute die eine oder andere Mutter vorbei, um zu gucken, ob auch alles vernünftig zuging in

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