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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Flugzeuge involviert waren, und dann in stechender Klarheit das Gesicht von Kai, diesem Jungen, wie er neben ihr in nicht mehr ansprechbarem Zustand im Bett lag, sie sah einen Scheißstein und wie er in Zeitlupe in die Windschutzscheibe eines Alfa Romeo einschlug, sie sah, wie die Augen der Katze den Ausdruck von Erfüllung annahmen, kurz vor dem Moment, in dem sie ihre Zähne in das Fleisch ihres Handballens rammen würde.
    Plötzlich dachte sie, zumindest sinngemäß: Wow, was wollen die alle mit detaillierten literarischen Schilderungen von sich durch Butterbrotpapier nässendem Frischkäse, mich interessieren Weltkriege, verdammte Scheiße. Und sie dachte an Kai. Sie konnte nicht aufhören, an Kai zu denken
     
    Dann blickte sie in Lambertos Gesicht. In seinen Augen spiegelte sich dieser schmerzhafte Schrecken angesichts der verspotteten und geschmähten Seele eines Menschen wider, der noch zu klein war, um als »Tier« oder »Freak« degradiert zu werden. Er starrte Samantha an und atmete erleichtert aus, als er eine Reaktion auf sich selbst wahrnahm, die über apathisches Kopfnicken hinausging. Er strich ihr über die Haare und ging dann auf das inzwischen kerzengerade, gegen einen imaginären Sturm aufgebäumte Mädchen zu. Es schrie noch immer, verstummte jedoch, als Lamberto es an den Schultern packte, und riss sich etwas zu energisch aus seinem Griff, rannte mit in den Ärmeln vergrabenen Händen in der ihr eigenen, unkoordinierten Gangart, bei der sie den linken Fuß hinterherzuschleifen schien, weg. Lamberto schrie ihr irgendein beschwichtigend gemeintes Gefasel hinterher, das zum Ende hin in italienische Beschimpfungen ausartete. Dann setzte er sich neben Samantha auf die arschkalten Metallstufen zum Technikwagen. Die beiden guckten sich schweigend den Komposthaufen an, auf den Lamberto gerade eigentlich das Heu hatte schmeißen wollen. Als sie zurück in den Wagen kamen, erzählten sie in unausgesprochenem Einvernehmen nichts von der Begegnung mit dem Mädchen. Sie aßen aufgewärmte Reste und gingen als Erste ins Bett. Lamberto brachte Samantha zu ihrem Wagen und umarmte sie zum ersten Mal, seit er sie kannte. Samanthas Nichten schliefen bereits im oberen Teil des Stockbettes, die eine schnarchte, und die andere knirschte mit den Zähnen. Samantha schaltete den kleinen Handfernseher auf ihrem Schreibtisch an und zappte von einer Dokumentation über Wirbelstürme zu irgendeinem Privatsender, auf dem gerade die Hollywoodverfilmung von Romeo und Julia lief. Sie zog sich die Scheiße zwei Minuten regungslos rein und griff dann zu ihrem Handy, um Lamberto anzurufen.
    »Hallo?«, fragte er.
    »Hast du nen Fernseher?«, fragte Samantha.
    »Was?«
    »Ob du nen Fernseher hast. Da läuft gerade Romeo und Julia .«
    Lamberto antwortete nicht.
    »Egal. Hast du das mal gelesen wenigstens? Also das Stück?«
    Wieder keine Antwort. Sie redete einfach weiter.
    »Ich schon. Und ich sage dir, Shakespeare hat nie was anderes als romantisch verklärten Bullshit geschrieben. Romeo und Julia sind Idioten, Versager, um nicht zu sagen: Bilderbuchwaschlappen. Wenn man jemanden liebt, verdammte Scheiße, tut man alles, um am Leben zu bleiben.«
    Nach dreißig Sekunden Stille legte Samantha auf. Dann verfiel sie in eine Art anstrengenden Dämmerzustand, dessen zerstörerischer Kraft sie für die nächsten zwei Monate nicht mehr entkommen würde.

 
     
    11
     
    Dann also irgendwann durch ein marodes Treppenhaus, unaufgeräumte Zimmerfluchten, schwarzes Leder zu hellen Dielen und eine in bürgerlicher Manier erdachte Kombination von Moderne und Klassik. An den Wänden verschiedene Aspekte einer Haltung, die imponieren sollte. Es roch nach angebranntem Curryscheiß. Kai hatte seine Reisetasche im zum Kinderzimmer umfunktionierten Büro abgestellt, zwischen dem Schreibtisch und einer Luftmatratze, über der die gerahmte Fotografie eines Fuchskadavers hing. Inzwischen saß er am Küchentisch und sah seinem Vater dabei zu, wie er Nudeln aus dem Kochwasser um eine Gabel wickelte. Er wollte sie an die Kühlschranktür klatschen, holte aber zu weit aus. Die Nudeln landeten am einklappbaren Abtropfgitter der Kaffeemaschine und würden dort, zum Umriss eines Tigerbabys formiert, für die nächsten fünf Jahre kleben bleiben. »Tja, mein Sohn, das war dein Anteil«, sagte Detlev. Kai brauchte dreißig Sekunden, um den Witz zu verstehen. Dann lachte er und hörte lange nicht mehr auf.
    Sein Vater wohnte hier mit seinem Girlfriend. Es

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