Jage zwei Tiger
kämmen, und aß eine Handvoll Smarties zum Frühstück. Über ihrem Schreibtisch hingen seit kurzem einige von ihr gebastelte Versalien, die sich zum Satz »No beauty without the Wound« zusammenfügten. Sie warf sich eine Sweatshirtjacke über und ging über den verregneten Platz auf den Eingang des Zeltes zu, aus dem gedämpfter Techno klang. An den hochglanzlackierten Wagen der anderen vorbei, durch diesen nebligen Vormittag eines Jahres, in dem ziemlich viel passiert war. Der Zuschauerbereich und die Tribünen im Zelt waren erst halb aufgebaut, und der Geruch vom Anfang einer neuen Spielzeit hing in der Luft, der ihr als Kind immer irgendetwas versprochen hatte. Eine Mischung aus Popcorn, Pferden, Sägespänen und den undefinierbaren Eigenausdünstungen der jeweiligen Stadt, in der sie gerade das Zelt aufgebaut hatten. Auf den Kästen, die die Manege von den vorderen Logen abgrenzten, saßen fünfzig bis sechzig Kinder unter zwölf, die einem Vortrag von Samanthas Vater lauschten, in dem es um die Bedeutung des Zirkus für die Mitglieder seiner Familie ging. Samantha hasste es, wenn er diese Pathoskeule auspackte, die Kinder standen allerdings drauf und hörten mit offenen Mündern zu. Am Ende der Rede wurde normalerweise die im Zentrum der Zeltdecke hängende Discokugel angeschmissen, Samanthas ältere Schwester hatte gestern allerdings gesoffen, war am Verfolger eingeschlafen und konnte deshalb nicht schnell genug reagieren. Alle warteten, es passierte nichts, also lief Samantha an den Logen vorbei zu einer gegenüber den Kindern aufgestellten Bierzeltbank. Es dauerte nicht lange, bis die Kinder wahrnahmen, was mit Samantha nicht stimmte, und sich ein naiv-animalisches Raunen durch die Runde zog. Ihr fehlte ein Unterarm, und zwar erst seit kurzem. Sie hasste Kinder. In ihren Gesichtern spiegelte sich kaum gefilterter Abscheu wieder. Sie waren alt und gut erzogen genug, um das verbergen zu wollen, schafften es allerdings nicht, weil man in diesem Alter für solche Anstrengungen noch zu aufrichtig war. Sie alle würden zwei Wochen ihrer Sommerferien in disziplinspezifische Gruppen eingeteilt eine authentische Zirkusshow einüben, sie am Ende ihren Verwandten und Freunden vorführen und dann auf DVD gebrannt mit nach Hause nehmen. Das war erstens die einzige der Familie verbliebene Möglichkeit, das Zelt vollzukriegen, zweitens eine gute Einnahmequelle, weil dieser ganze »Kinder überschreiten ihre Grenzen«-Bullshit für die meisten Middle-Upperclass-Eltern als lohnenswerte Erfahrung galt. Unglücklicherweise hatte das zur Folge, dass jeder zweifache Salto, jede Besonderheit beim Schlucken von Feuer und die in Kauf genommene Lebensgefahr bei der über Jahre hinweg einstudierten Vertikalseilnummer von Samanthas Cousine, während derer sie mitreißend und voller Grazie zwanzig Meter über dem Boden zu »Eye of the Tiger« durch die Luft gewirbelt wurde, fast nichts anderes mehr als zu vermittelnde Erfahrungswerte waren. Ein Großteil der Kinder schaffte kaum einen Purzelbaum. Beinahe keins von ihnen wusste seine Ellbogen anständig durchzudrücken. Trotzdem waren sie alle irgendwie süß, weil unschuldig, aufgrund der noch nie erfahrenen Misere, sich bewusst gegen das Böse entscheiden zu müssen. Der Zugriff auf die Idee dieses Bösen, der ihnen durch Samanthas Anblick gewährt wurde, war beängstigend und auf derselben Ebene interessant wie ein Verkehrsunfall. Gleichzeitig war Samantha die hübscheste der Schwestern, sie war nicht sexy, überhaupt nicht, man kann sich unter ihr keinesfalls das Klischee der Quotenbehinderten vorstellen, die gleichzeitig massakriert und dann auch noch immer sexy sein müssen. Ihr fehlte ein Unterarm, und dieser Mangel schien sich auf eine vertrackte Art und Weise auch auf die verbliebenen Gliedmaßen ausgebreitet zu haben. Ihre großen Schwestern hatten gute Züge, perfekte Figuren und einige dunkle Haarsträhnen mit Gel zu über den Wangenknochen angelegten Blumenranken gestaltet. Aber Samanthas Schönheit beruhte auf diesem irrationalen Grace-Kelly-Moment totaler Einnahmefähigkeit. Ihre Erhabenheit war in keinem noch so jämmerlichen Ambiente aus der Welt zu schaffen.
Zwei Stunden später hatte es aufgehört zu regnen, die Kinder sprangen auf ausgebreiteten Plastikteppichen herum und aßen dabei gegrillte Würstchen. Die meisten von ihnen übten einarmige Radschläge oder stellten sich an einer langen Schlange an, um von Rocco ein zwischen zwei Bäumen gespanntes
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