Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
Vom Netzwerk:
diesem Zigeunerkontext. All das führte zur Vermutung, Pascal könne ein Päderast sein, und noch am selben Tag wurde die Hälfte der sechzig teilnehmenden Kinder unter lautstarken Anschuldigungen telefonisch vom Zirkusprojekt abgemeldet.
    Pascal heulte, seine Eltern lachten, der Rest der Familie auch, trotzdem empfanden alle die Unmöglichkeit, aus ihrer Position heraus auf dieses abwegige Gerücht reagieren zu können, als endgültige Besiegelung ihres gesellschaftlichen Abstieges. Samantha befreite sich aus dieser unausgesprochenen Kackstimmung mit dem Vorschlag, freiwillig die Tierzelte auszumisten, woraufhin Lamberto, ein als einziger nicht zur Familie gehörender italienischer Antipodenartist, Mitte zwanzig, aufsprang und ihr nach draußen folgte. Er sprach glücklicherweise so wenig Deutsch, dass sie sich nicht mit ihm unterhalten musste. Während er das Heu ausmistete, ging Samantha mit den Ziegen zwei Runden um den Platz und zündete sich eine Zigarette an. Was hätte in dieser Stunde kontemplativer Stille Folgerichtigeres geschehen können als eine dritte Begegnung mit dem Mädchen. Es stand zwischen dem etwas abseits geparkten Technikwagen und dem Komposthaufen, in einem Meter Abstand zu vier pubertären Jungs mit Migrationshintergrund, die sich eine leere Coladose zukickten und rauchten. Das Mädchen war mal wieder schwer verängstigt, wurde aber ignoriert und ab und zu von Gelächter begleitet mit der Coladose beworfen, woraufhin sie nicht wegrannte oder gar wütend wurde, sondern nur eine noch devotere Körperhaltung einnahm und mit gesenktem Blick zittrig zu kichern begann. Ein eher denkwürdiges Bild. Samantha war zu unruhig, um etwas unternehmen zu können. Als zwei der Ziegen jedoch aufeinander losgingen und einen Riesenlärm verursachten, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit durchgedrücktem Kreuz auf die Jungen zuzugehen. Die sagten ungefähr eine Minute lang überhaupt nichts, weil sie nicht einordnen konnten, welcher Aspekt dieser Erscheinung am unglaublichsten war: die vier Ziegen, der fehlende Arm oder die im Widerspruch zu alldem stehende Erhabenheit des Mädchens, dem er einmal gehört hatte. Samantha unterbrach die Stille mit der an die Jungs gerichteten Frage, ob sie statt des kleinen Mädchens nicht jemanden in ihrem eigenen Alter ärgern könnten. Die Jungs antworteten nicht, sondern fingen hysterisch an zu lachen, klatschen sich etwas zu demonstrativ ab wie zur allgemeinen Beglückwünschung, gemeinsam und gutgelaunt in eine derart abstruse Situation geraten zu sein. Von einem von ihnen wurde Samantha als »voll der Zyklop« bezeichnet, weil ihm vermutlich nie jemand beigebracht hatte, dass Zyklopen keine Gliedmaßen, sondern ein Auge fehlt. Trotzdem artete das Ganze weder in einen Shitstorm noch in eine Schlägerei aus, stattdessen verzogen sich die Jungs in einem zähen, mit inzwischen nur noch gespieltem Lachen durchzogenen Abmarsch in den Park zurück, um dort dann einen Mülleimer anzuzünden oder so. Samantha sah ihnen hinterher, sehr lange und wie in Trance, bis sie realisierte, dass das kleine Mädchen inzwischen auf den Knien am Boden lag und leise in sich hineinschluchzte. Sie rannte zu ihr, wollte wissen, was passiert und warum sie nicht zu Hause sei und ob ihre Eltern sich nicht Sorgen machten und den ganzen Scheiß, aber das Mädchen antwortete nicht. Samantha versuchte ihr aufzuhelfen, um sie zu irgendeiner Sitzgelegenheit geleiten zu können, das war zumindest ihre Intention. Aber in dem Moment, in dem ihre Hand die Schultern des Mädchens berührte, zog es sie plötzlich so energisch wie unvermittelt zu sich auf den Boden. Das Schluchzen wurde zu einem am Rande des Wahnsinns anzusiedelnden Heulen, das Mädchen versuchte irgendeinen Satz zu formulieren, konnte dafür aber scheinbar nicht gut genug sprechen. Sie schrie und heulte einfach nur und vergrub ihre kleinen Fingernägel in Samanthas Rücken. Es dauerte nicht lang, und Samanthas fürsorglicher Reflex schlug in Panik um, die Intensität, mit der sich das Mädchen an sie presste, fühlte sich an, als machte es sie zu einem Verbindungsstück zwischen Leben und Tod. So dünn und zu klein geraten das Mädchen auch war, brachte es eine derart existenzielle Kraft auf, dass Samantha sich nicht aus ihrer Umarmung lösen konnte. Sie hörte ihre eigene Stimme nach Hilfe schreien. Sie schloss die Augen, unzusammenhängende Bilder tauchten auf von Tieren und Menschen und Autobahnen und Motorradunfällen auf Capri, in die

Weitere Kostenlose Bücher