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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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zuzuschreibenden Formulierung geendet: »Wenn Sie uns Ihre Adresse geben, wird der Zirkusdirektor zu Ihnen nach Hause kommen und erklärt Ihnen dort unser Programm von A bis B .«
    Eilkrit sah gut aus, und in keinem anderen Familienmitglied verband sich die energische Rhetorik so rabiat mit Empfindsamkeit. Sie ging durch den Wagen ihrer Tochter, als hätte sie ihn gerade zum ersten Mal betreten, strich mit dem Finger über die Oberflächen einiger Einbaumöbel und setzte sich dann zu Samantha aufs Bett, ohne ihren Blick von den hinterlassenen Streifen im Staub abzuwenden.
    »Hast du schon den Komposthaufen gesehen?«, fragte sie. Samanthas Vater hatte einen riesigen Komposthaufen neben den Ställen angelegt, auf dem sich nun Tierscheiße und biologisch abbaubarer Abfall türmten. Der war inzwischen drei Meter hoch und stank bestialisch.
    »Ja, ihr seid alle verrückt«, antwortete Samantha.
    »Ich hab ihm schon gesagt, dass das nicht geht und dass er sich irgendwas einfallen lassen muss, um den Scheiß wieder da wegzukriegen. Ich glaube, er hat im Fernsehen was über Würmer gesehen, die Müll fressen und sich damit reproduzieren oder so, frag mich nicht, wie das geht.«
    »Aber das stinkt total, Mama, echt. Es ist widerlich. Vor allem ist das kein kleiner Kasten, das ist ein riesiger Müllberg, wie will so ein dummer Wurm so eine fette Ladung Dreck verdingsen, wie heißt das denn, verdauen.«
    Eilkrit zuckte mit den Schultern, sagte »Keine Ahnung« und dann, sehr abfällig: »Willst du gar nicht wissen, wie es deinem Bruder geht?«
    »Der Arsch.«
    »Ich mein nicht Rocco, sondern den anderen.«
    »Entschuldigung. Wie geht’s dem?«
    »Na ja, Nasen- OP ist das Härteste, das Allerhärteste von der ganzen Welt. Ich glaube, er hat noch nie so was Schlimmes erlebt in seinem Leben. Er sagte, er hätte schon so ein Scheißgefühl gehabt, als er da auf diese Liege kam und die ihm so Zeug gegeben haben für die Narkose. Da dachte er schon: Nee, irgendwie hat er Schiss. Und dann dachte er: Ach, was sollen die schon machen, ich komm da rein und schlafe und komm da wieder raus und alles ist okay. Aber Samantha, die Schienen, die die da reingepackt haben in seine Nase, die gehen echt bis hier oben hin«, Eilkrit visualisierte das Ganze, indem sie sich an die Hinterseite ihres Schädels klopfte, »– und verursachen solche Höllenschmerzen, weil die an der Schleimhaut angenäht werden. Die Schleimhaut ist so empfindlich, es ist relativ eindeutig, dass er diese Fäden und Schienen auch spürt, und die Nase ist bei jeder Berührung wie ein Scheißentzündungsherd. Und überall so Tamponaden drin im Kopf. Totaler Unterdruck, und du kannst nur durch den Mund atmen. Dann kam der Arzt jedenfalls gestern mit so ner Metallzange und zog und zog und zog, bis Pascal irgendwo hinten in seinem Kopf das Gefühl hatte, da würde irgendwas rausgezogen, so hat er es jedenfalls beschrieben.«
    »Das ist krank.«
    »Ja. Die waren so groß wie Surfboards, das war unglaublich.«
    »Toller Vergleich.«
    »Ich mein’s todernst.«
    »Weißt du noch, wie er sich die Hauptschlagader aufgebohrt hat?«
    »Was?«
    »Da muss er fünfzehn gewesen sein oder so, ich war jedenfalls klein, gerade in der ersten Klasse. Pascal kam plötzlich über den Platz gelaufen und war total rot vor Anstrengung oder so. Die ganze Zeit drückte er seinen rechten Daumen auf eine Stelle am linken Unterarm. Und so fuhr der dann alleine und ohne eine Miene zu verziehen ins Krankenhaus. Weil er halt beim Zeltabbau mit der Bohrmaschine irgendwie abgerutscht ist und die Hauptschlagader getroffen hat. Und er sah die ganze Zeit kein einziges Mal so aus, als hätte er Schmerzen oder Angst. Das fand ich so hart, Mama. Aber er hatte zumindest irgendein Scheißglück, das ihn vorm Schlimmsten bewahrt hat, und zwar immer. Im Gegensatz zu –«
    »Dir? Im Gegensatz zu dir, wolltest du das jetzt sagen? Mein liebes Kind, du hattest Glück.«
    »Ich hatte keins, und das weißt du.«
    Ihre Mutter atmete tief durch.
    »Ich weiß nur, dass ich gestern kurz mit Papa im Zelt saß und wir uns daran erinnert haben, wie du damals auf Teneriffa deine erste Erdbeere gegessen hast. Und plötzlich hab ich gemerkt, dass du genau so geworden bist, wie ich mir dich immer gewünscht habe damals. Ich hab fast geheult, ehrlich.«
     
    Eilkrit klopfte ihrer Tochter auf die Schulter und verließ mit dramatisch auf den Boden gerichtetem Blick den Wagen. Samantha beschloss, weder zu duschen noch ihre Haare zu

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