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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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die Stirn und baute den kilometerlangen leeren Flur zu einem begehbaren, durch Plastikvorhänge in verschiedene Kategorien unterteilten Kleiderschrank um. Kai fraß von ihr aus Burma mitgebrachte Süßigkeiten und schmiss die Verpackungen in eine Vase neben dem Sofa, weil er zu faul war, zum Mülleimer zu gehen. Sein Vater guckte sechs Staffeln einer amerikanischen Qualitätsserie. Nach jeder Folge führte er zwei bis drei Telefonate oder erklärte Kai, warum das Jugendamt ihm zeitweise verboten hatte, ihn zu treffen. Als Kai fünf gewesen war, hatte er ihn alleine bei sich zu Hause gelassen, um in die Disko zu gehen, woraufhin seine Mutter offenbar durchgedreht und mit ihrem Auto durch die Fensterfront von Detlevs damaligem Bungalow gefahren war.
     
    Manchmal hing Kai im Englischen Garten rum und beobachtete die Surfer im Eisbach. Beim Gedanken daran, wieder zur Schule zu müssen, erwog er zu sterben. Obwohl Susanne Text üben musste für die Rolle einer persischen Mutter im Vorabend-Dreiteiler Der Oktopus , zog sie sich den schwarzen Trenchcoat über ihr Nachthemd und brachte ihn an seinem ersten Schultag zur Straßenbahnhaltestelle. Sie gähnte und rauchte abwechselnd und schrie ihm, kurz bevor sich die Türen der Straßenbahn schlossen, hinterher, dass er alle gleichaltrigen Spinner von vornherein darum bitten solle, ihn nicht zum Mobbingopfer zu machen. Als die Türen zugingen und die Bahn sich in Bewegung setzte, schmiss sie ihre Kippe weg, rannte noch ein kleines Stück am Fenster mit und fügte einen Satz hinzu, dessen Inhalt Kai lippenlesend als irgendwas mit »überdurchschnittliche Blödheit« und »Ehrlichkeit währt am längsten« zu interpretieren glaubte.
    Eine halbe Stunde später stand er dann vor seiner neuen, an Linoleumpulten angeordneten Klasse. Er versuchte, gegen die Nervosität stärker durch das rechte Nasenloch zu atmen als durch das linke, und wurde von einer patenten Lehrerin, die an Samson aus der Sesamstraße erinnerte, als »der Neue aus Berlin« vorgestellt. Auf ihre Frage, ob er was über sich erzählen wollte, formulierte er ein lässig gemeintes Statement bezüglich seiner Hoffnung, gut mit allen klarzukommen. Dieser ganze Wohlfühlquatsch, von wegen man strahle da so eine innere Schönheit aus, sobald es einem gutgehe, stellte sich erneut als Bullshit raus, Kai ging es beschissener denn je, und dieser leicht heruntergehungerte Zustand, gekoppelt mit irgendetwas Überlebtem in seinem Blick, schien für die anderen ein Grund zu sein, seine runterhängenden Schultern nicht als Schwäche, sondern als angebracht einstufen zu können. Er sah sich seine zukünftigen Mitschüler der Reihe nach an. Ein rothaariges großes Mädchen namens Eileen, das er als volleyballversessene Anorektikerin einschätzte und das drei Tage später ein Referat über den Hungerstreik des Dalai-Lamas halten würde. Neben ihr saß ihre beste Freundin mit bei einer Schuluntersuchung diagnostizierten zwei Kilo Übergewicht. Derentwegen und weil man bei all den in Therapien steckenden Klassenkameraden schwer ohne eigene Psychostörung auskam, versuchte sie nun ebenfalls magersüchtig zu werden, kriegte das aber kaum geregelt, weil sie zu gerne Zwiebelmett aß. Kai sah, wessen Eltern neureich waren. Welcher der Jungen reihenweise Tennispokale gewann und zwei Wochen vor Ferienbeginn vom Unterricht freigestellt wurde, um einen älteren Bruder bei dessen Gastfamilie in Texas besuchen zu können. Er sah, dass Simone und Dunja, Lacostepullover zu Chinohosen am Leib, in ihrer hermetisch verschlossenen Zweierfreundschaft als potenzielle Amokläuferinnen einzuordnen waren und im Gesicht des Typen hinter ihnen, wie der gestern im Schulbus damit angegeben hatte, seiner neugeborenen Stiefschwester den Mittelfinger in die Fotze gerammt zu haben.
    Am hintersten Pult saß Lennart Grammel mit dreckigen Fingernägeln und einem Tick, bei dem er alle drei Sekunden die Nase in Richtung Ohr verzog. Er hatte ein Glasauge, und weil die Klasse nicht besonders einfallsreich zu sein schien, wurde er auch so genannt. Glasauge war aus zerrütteten Verhältnissen in die 7a geraten, hatte sich als verhaltensgestört und intelligent rausgestellt und diverse Eigenschaften an sich, die die anderen als Berechtigung dafür betrachteten, halbverdaute Pausenbrote in seinen Ranzen spucken zu dürfen. Man erzählte sich, sein Vater habe eine thailändische Frau aus dem Katalog gekauft und dass er Lennart jede Nacht in einem Kellerloch einsperre. Niemand

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