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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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hätte ohne weiteres Comtessa heißen können, hieß aber Susanne und machte als attraktive Wasserschutzpolizistin in Quatschformaten wie »Notruf Hafenkante« sehr viel Kohle. Susanne war vierzig und die längste Beziehung, die Detlev je gehabt hatte. Abends vorm Fernseher fragte sie Kai manchmal, ob sie aussehe wie Charlotte Rampling in The Night Porter . Wenn er nickte, rieb sie sich entweder in diebischer Freude die Hände oder küsste ihn auf die Wange. Die Tatsache, dass sie selbst im Hochsommer schwarze Yamamototrenchcoats trug, als Ausdruck von aus der italienischen Vogue übernommener Strenge und Contenance, stand im Widerspruch zu ihrem vulgären Humor und den Urlaubsstorys, die sie manchmal erzählte. Sie hatte zusammen mit ihrer Mutter, die Kais Vater zufolge wie Dieter Bohlen aussah, bei einem sechswöchigen Afghanistantrip den bewaffneten Überfall auf ihr Hotel miterlebt und mal drei Monate nicht geduscht, weil das in der mauretanischen Wüste schlechterdings nicht möglich gewesen war. Manchmal bezeichnete sie einen abgebrochenen Fingernagel als größte je da gewesene Katastrophe, um zwanzig Sekunden später den Ablauf des Völkermords in Ruanda zu analysieren. Susanne war lustig, redete ununterbrochen und wusste, was Todesangst ist. Kai mochte sie, obwohl sie ihn an seinem ersten Abend in der neuen Wohnung mit einem Anflug von Hinterfotzigkeit konfrontiert hatte. Er lag auf seiner Luftmatratze unter dem Fuchskadaver, und Detlev kniete neben ihm, um ihm der Geste wegen irgendeine unbeholfene Form von Gutenachtkuss zu geben. Plötzlich tauchte Susanne im Türrahmen auf, ein Chiffon-Negligé am Leib, um dort zwei Sekunden später einen Ohnmachtsanfall zu faken. Kai checkte im Gegensatz zu seinem Vater sofort, dass sie schauspielerte, weil ihr Zusammenbruch zu sexy für eine Kreislaufschwäche war. Sie kam mit halb gespreizten Beinen auf, trug keine Unterhose, ließ sich von Detlev ins Schlafzimmer tragen und danach bei geöffneter Tür sehr laut ficken. Sie hatte Angst um ihre Hierarchieposition. Sie fühlte sich von väterlichen Urinstinkten bedroht, die Detlev gar nicht hatte. Das war ihr nicht vorzuwerfen, ihre Mutter hatte im Kinderheim gearbeitet und Männer gehasst, so legitimierte sie ihren moralischen Ausfall jedenfalls zwei Tage später unter Tränen und von aufrichtig schlechtem Gewissen geplagt. Kai fand Menschen über dreißig, die ihre Kindheit für ihr Handeln verantwortlich machten, zwar doof, sagte aber nichts. Er hatte das große Bedürfnis, Susanne ihre Angst zu nehmen, aber noch keine Kommunikationsskills vorzuweisen, die ihm das ermöglicht hätten.
    Dafür machte er Tag für Tag Fortschritte in der Analyse der ihn umgebenden Welt. Er interessierte sich für ausnahmslos alles. Weil er realisierte, dass er keine zweite Katastrophe überleben würde. Und deshalb jede Lebensregung jedes beliebigen Wesens bis zum Exzess durchzuanalysieren versuchte, um eine daraus hervorgehende Katastrophe früh genug erkennen und abwenden zu können. Dieser Vorgang war ausschlaggebend dafür, dass er anfing zu denken. Man denkt, weil man weiß, wie schnell etwas kaputtgehen kann, und nicht unbedingt, weil man ein ernsthaftes emotionsfreies Interesse an Mesopotamien hat. Er rechnete jedenfalls mit dem Allerschlimmsten. Jederzeit. Er ging nicht davon aus, dass am nächsten Tag der Himmel runterfallen würde, aber eine Garantie dafür hatte er nicht. Kai fuhr nicht mehr Fahrstuhl und schlief nicht, weil er jede Nacht aufs Neue davon überzeugt war, dass sich Einbrecher mit blutbeschmierten Folterinstrumenten in der Wohnung aufhielten. Sobald er alleine in einem Raum war, konnte er Geräuschen nicht mehr ihre tatsächliche Lautstärke oder die Richtung zuordnen, aus der sie gekommen waren. Er drehte sich im Bett auf die andere Seite und vernahm das Rascheln der Decke so verstärkt und räumlich verzerrt, dass er es für eine heranrollende Lawine hielt oder den Versuch, die Wohnungstür aufzubrechen. Kai hätte nicht bezweifelt, dass er von seinem Vater geliebt wurde, aber er wusste, dass im Herzen von in präpubertären Lovelandphasen steckengebliebener Männer Väterlichkeit nicht mit normaler Leidenschaft gedeihen konnte – von der Gewalt sich gegenseitig zugesprochener Fürsorge wurde man hier halt nur sehr selten erfasst, egal ob einem manchmal jemand die Hand hielt oder nicht. Eine Woche lang führten die drei eine friedliche, an Lethargie grenzende Koexistenz. Susanne band sich eine Art Girlande um

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