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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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hätte dieses Gerücht belegen können, aber man traute sich als normativen Klischees entsprechender Dreizehnjähriger nicht an eine konkrete Auseinandersetzung mit dieser Extremform von Andersartigkeit heran. Deshalb musste sie im denkbar tiefsten Abgrund angesiedelt werden: einem Kellerloch.
    Kai kam das bescheuert vor, aber er riss sich zusammen. Die Leute waren okay zu ihm, und über mehrere Tage hinweg schaffte er es, mit der Aufforderung klarzukommen, in dieser willkürlichen Zusammensetzung verschiedener Gleichaltriger alle später verlangten Erfahrungswerte einholen zu müssen. Ein glücklicher Umstand sorgte für eine Unterbrechung dieser psychosozialen Anstrengungen, und zwar am Freitag, bei seiner ersten Doppelstunde Chemie. Kai setzte sich neben irgendein Mädchen mit Plastikhaarreif, das gerade ihr Federmäppchen, eine Yogurette-Packung und zwei pinke Zopfgummis zu einem Dreieck auf dem Tisch anordnete. Dann fotografierte sie es mit ihrem Handy und lud das Bild auf Facebook hoch. Kai hatte keine Ahnung, warum. Als Letzter betrat Lennart den Raum. Sein Blick schweifte durch die Klasse, er suchte nach einem Sitzplatz, aber alle Stühle waren belegt. Niemand rührte sich. Fünf Minuten später hatte er einen Tisch aus dem Nachbarzimmer angeschleppt. Nun versuchte er verzweifelt, ihn irgendwo unterzubringen, doch der Chemieraum war zu klein. Herr Einecke-Klövekorn erklärte Kai sinngemäß, dass er nun, wo kein Tisch mehr in die Klasse passe, am besten verschwinden solle.
    »Was heißt das? Es passt kein Tisch mehr in die Klasse?«, fragte Kai.
    »Was das heißt, willst du wissen?«, antwortete Herr Einecke-Klövekorn relativ trocken. »Dass hier irgendein unfähiger Sekretariatsangestellter die siebte Klasse überbelegt hat und du dir leider eine andere Schule suchen musst!«
     
    Herr Einecke-Klövekorn behielt mit diesem Satz recht. Kai war dazu gezwungen, nach nur einer Woche auf eine katholische Privatschule zu wechseln, in der er keinen anderen Ehrgeiz aufzubringen gedachte, als von allem, was ihn nicht umbringen würde, härter gemacht zu werden. Am zweiten Tag bat man ihn jedoch mitten im Unterricht ins Direktorat, wo er einen Anruf seines Vaters entgegennahm. »Kai, hör mir jetzt gut zu«, sagte sein Vater, und Kai begann an seinen Fingernägeln zu kauen.
    »Katholizismus ist künstlerische Kommunikation, Größenwahn, eine Art Oper, letztlich die einzige wirklich geile Religion – der Wille zum Überfluss und Entertainment, guck dir die Klamotten an, die inszenierten rituellen Aufmärsche, die Opferhandlungen und die ganzen perversen Nebenschauplätze, guck dir an, wie Hedi Slimane letztes Jahr Marilyn Manson und Lindsay Lohan für die neue Saint-Laurent-Kampagne gecastet hat, das hätte er ohne das Bewusstsein, dass Jesus bereits für ihn gestorben ist, definitiv nicht hingekriegt. Dieses Bewusstsein kann unter bestimmten Umständen das Auffangen aller menschlichen Widersprüche bedeuten, und trotzdem, mein Sohn: ich will nicht, dass du auf diese Schule gehst.«
    »Warum denn nicht?«
    »Weil –«
    Sein Vater geriet ins Stocken, seine Lügen stanken ja grundsätzlich zum Himmel, Verschweigen bekam er aber gerade noch so hin, weshalb er in einem aufgesetzt autoritären Ton plötzlich keifte:
    »Ich bin dir nicht im Geringsten Rechenschaft schuldig, und du kommst auf der Stelle nach Hause!«
    Es fehlte nicht viel, und er hätte ein »zack, zack!« drangehängt.
    Kai zuckte mit den Schultern und fuhr nach Hause. Sein Vater begrüßte ihn nicht, schmiss ungefaltete Klamotten in seinen Louis-Vuitton-Weekender und forderte ihn auf, dasselbe zu tun. Es schien irgendwas vorgefallen zu sein, einer von Susannes Kleiderständern im Flur war umgefallen, und ihr Zimmer war leer, obwohl sie dort um diese Uhrzeit normalerweise in einer 800-seitigen Dissertation zum Ende des Kapitalismus gelesen hätte. (Das stimmt tatsächlich, sie war in ihrer Jugend lange die stellvertretende Vorsitzende der marxistischen Gesellschaft in London gewesen.)
    Eine halbe Stunde später saßen Detlev und Kai in einem überfüllten IC ohne Bordrestaurant, dessen Klimaanlage ausgefallen war. Detlev hatte überall rote Flecken und reagierte auf Kais Fragen, wo sie hinfahren würden, entweder gereizt oder gar nicht. Kai hatte Durst, ihm war zu heiß, und er saß die Hälfte der Fahrt über auf dem Flur, weil Detlev keine Plätze reserviert hatte. Nach sechs Stunden stiegen sie am Zürcher Hauptbahnhof aus, es war bereits

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