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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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runter. »Was ist hier eigentlich los?«, fragte Kai Silvana. »O Gott, ich dachte schon, du fragst nie«, antwortete sie und zündete sich eine Kippe an.
    »Der Scheiß nennt sich Streetparade. Hier hab ich vor circa sechs Jahren deinen Vater kennengelernt. Während er gerade halbnackt ein Mischgetränk aus verschreibungspflichtigem Hustensaft und zerkrümelten Bonbons trank und von Pyrotechnik und Riesenbabys mit Leuchtschwertern sprach. Der Messias kam auch vor. Ich schwör’s dir.«
    Detlev blieb nichts anderes übrig, als eine unverständliche Bestätigung zu murmeln. Von der Haltestelle aus sah Kai den Zürisee, eine ruhig vor sich hin existierende, große Fläche in Bananenform. Er schlug keine Wellen und schien der einzige nicht von Massenhysterie in Beschlag genommene Fleck in der Stadt zu sein. Die drei liefen Hand in Hand durch die Menschen. An einer Schlägerei zwischen drei Glatzköpfen und einer Vierzehnjährigen vorbei. Ein Mann über fünfzig nahm Kai, ohne zu fragen, seine Strohmütze vom Kopf und drückte ihm als Tausch eine Bonsai-Magnolie in die Hand. Zehn Minuten später stand Kai auf einer Art vollgekotztem Steg, zwischen zwei Erwachsenen, die gerade damit beschäftigt waren, ihre gescheiterte Affäre ausklingen zu lassen, in einer Stadt, die er nicht kannte, unter einer diabolischen Mittagssonne, die ihn töten wollte. Es dauerte nicht lange, bis sich Friedhelm und sein Boot näherten. Er steuerte das holzvertäfelte, einem Bondfilm von 1950 entrissene Gefährt im Stehen und winkte. Silvana freute sich, ihn zu sehen, und machte den obersten Knopf ihrer Jeans auf, sodass die bis zur Hälfte ihres Arsches runterrutschte, als sie vom Steg aus in Friedhelms Arme sprang. Detlev hob zuerst Kai ins Boot und kletterte dann selbst rein. »Schickes Teil«, sagte er zu Friedhelm, ohne ihn anzusehen. Friedhelm antwortete: »Silvana hätte eigentlich ganz gerne ein U- Boot gehabt, aber dafür hätte man den kompletten Scheißsee ausheben müssen.« Dann fuhr er in demonstrativer Rasanz auf die Mitte des Wassers. Die Erwachsenen unterhielten sich über » Ü40 -Treffs der Multitox-Kunst-Generation«, tauschten Kippenberger-Zitate aus und fanden es allesamt stillos, dass sich eine gutverdienende Oligarchenwitwe aus Köln im Badezimmer den U- Bahn-Plan von Moskau hatte fliesen lassen. Ohnehin wurde ziemlich viel sehr stillos gefunden, wenn nicht sogar »vulgär« oder »einfach ekelhaft«.
    Kai hatte ein Stück Melone in die Hand gedrückt bekommen und regungslos zugehört, bis sich Friedhelm plötzlich in einer Art chauvinistischem Hippiegestus seine casual wear vom Leib riss und ankündigte, ne Runde schwimmen zu gehen. Dann sprang er mit einem Köpper ins Wasser. Silvana und Detlev zogen sich ebenfalls aus und kletterten über die kleine Metallleiter an der anderen Seite des Bootes hinterher, Kai beobachtete das fassungslos, die drei schrien ihm aus dem Wasser heraus zu, er solle sich nicht so zieren und wie toll das alles sei und dass er es später bereuen würde. Er betonte mehrmals, dass er einfach keinen Bock habe, doch sie hörten nicht mal auf ihn überreden zu wollen, als sie sich bereits der Reihe nach über die Leiter zurück auf die Reling gekämpft und in gestreifte Missonihandtücher gewickelt hatten. Dort saßen sie dann zitternd und diskutierten sage und schreibe fünf Minuten darüber, was in aller Welt es zu bedeuten habe, dass Kai nicht ins Wasser wollte. Kais aggressive Tendenzen verdichteten sich. Und als ihn Silvana in diesem sadistisch angehauchten Tonfall totaler Fürsorglichkeit fragte, ob er überhaupt schwimmen könne, starrte er ihr plötzlich zum ersten Mal in die Augen, deren Farbe ziemlich stark durch Sonneneinstrahlung beeinflusst war. Er zog sich seine Schuhe aus, schmiss einen von ihnen knapp an Silvanas Kopf vorbei ins Wasser und sprang in Klamotten hinterher.
    Dann schwamm er los. Er war zweimal am Seepferdchen gescheitert, doch diese an Überlebenskampf grenzende Stimmung setzte mal wieder jeden Vorteil antrainierter Ausdauer außer Kraft. Es ging um Panik, Hass, Wut und die Erkenntnis, wegzumüssen. Noch bevor die drei Erwachsenen es geschafft hatten, sich aus ihrer Bewegungsstarre zu lösen und den Motor des Bootes zu starten, war er ihnen 200 Meter voraus und hatte fast die Hälfte der Strecke zum Ufer zurückgelegt. Er biss sich auf die inzwischen verheilte Zunge, die erneut zu bluten begann, und dachte an nichts. Eine in der Ferne vorbeirasende Yacht verursachte

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