Jage zwei Tiger
derart starke Wellen, dass er die Orientierung verlor, Wasser in die Nase und keine Luft mehr bekam. Doch in erbittertem Starrsinn schaffte er es ans Ufer, in einem Tempo, das seine körperlichen Voraussetzungen bei weitem übertraf. Er streckte einen Arm aus dem Wasser und wurde von zwei Männern mit Glitzertattoos im Gesicht an Land gehoben. Die Ravekids an der Promenade hatten ihn bereits angefeuert, als sie ihn aus dem Boot springen sahen, und jetzt wurde er unter lautem Jubel auf die Schultern einer uneitlen Zweimetertranse im Jeanskleid gesetzt. Er wusste auch nicht so genau, was los war, aber er lachte. Er nahm wahr, dass ihm gerade von einer großen Gruppe zugedröhnter Partypeople mehrere hawaiianische Blumengirlanden um den Hals gehängt wurden. Er lachte noch mehr. Und als Friedhelms Motorboot nach einigen Komplikationen ebenfalls am Ufer ankam und Kai in die Gesichter dreier Insassen blickte, die alt wie Scheiße waren, realisierte er endlich, dass sie früher sterben würden als er selbst.
Er lief in ausgewrungenen Klamotten eine Straße entlang. Im Hintergrund der rötliche Dämmerhorizont und sich davor abzeichnende Kirschbäume.
»Weißt du, was mir eingefallen ist?«, fragte Kai. Detlev ließ die Augen einen Moment zu lang geschlossen und blieb mit abgewandtem Blick, fast wie zur Erteilung einer Erlaubnis dafür, dass Kai ihn jetzt erschießen könne, stehen.
Dann lief er weiter.
»Warum Dennis, der Typ, mit dem ich früher befreundet war im Kindergarten, plötzlich aufgehört hat vorbeizukommen damals.«
»War das der Kleine mit der Neurodermitis?«
»Nein, das war der, wo der Vater irgendwie im Gesundheitsministerium saß. Der mit der Zahnspange. Der wohnte über uns und sollte bei mir übernachten, weil seine Mutter zur Elternvorstandssitzung seiner Schule musste. Und dann hat sie ihn halt abgeliefert und irgendwie eine Flasche Wein mitgebracht, und deshalb ist die Mama dann, obwohl sie das ja eigentlich immer vermieden hat –«
»Sie konnte es nicht lassen, sich da drauf zu stürzen?«
»Ja, genau. Bisschen hart. Da waren wir fünf. Fünf und sechs, also Dennis war sechs, und ich war fünf. Ich hab nur gemerkt, wie sie sich langsam veränderte, also wie in einem ganz klaren Verlauf sozusagen, den ich ja auch schon kannte. Vielleicht, weil ich versucht habe, das durch Dennis’ Augen zu sehen, und mir die ganze Scheiße viel krasser vorkam als sonst. Ich wusste die ganze Zeit, dass irgendwas passieren würde, und hab angefangen mich zu schämen. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Alles, was ich war, ist irgendwie zusammengebrochen wegen diesem Gefühl, und ich wollte nur noch verschwinden. Eigentlich wollte ich tot sein, wirklich. Und dann saßen Dennis und ich in meinem Zimmer und haben Traumautos gemalt.«
»Traumautos?«
»Voll der Scheiß. So Autos mit Rädern, wo Leute drin leben können, und in die Motoren muss man alle zehn Jahre mal eine Möhre reinwerfen, damit sie fahren.«
»Warum eine Möhre?«
»Keine Ahnung. Wegen Umweltverschmutzung. Statt Benzin. Deshalb die Möhre. Das sollte halt alles perfekt sein. Die waren zehnstöckig, diese Autos, und wir haben sozusagen immer die Querschnitte davon gemalt, auf jeder Etage gab es kleine Wohnungen, Speisesäle, Fitnessräume und so was und Bibliotheken und Zigarettenautomaten. Die Küchen waren total überfüllt mit Brötchen, weil keiner der Bewohner jemals wieder das Auto verlassen müssen sollte, ganz oben auf dem Dach hatte ich meistens noch nen Garten mit Spielplatz und untendrunter so ne Art Schwimmhalle.«
»Und dann?«
»Ja, also, derjenige, der die meisten Betten in sein Auto reingemalt gekriegt hatte oder halt einfach die besten Funktionen, also zum Beispiel noch einen Flipperautomaten oder einen Helikopterlandeplatz, war der Gewinner. Ich habe mir nicht wirklich Mühe gegeben und Dennis dann in meinem Zimmer eingesperrt. Ich hab gesagt, ich muss aufs Klo, und dann die Tür hinter mir zugezogen und von der anderen Seite ganz leise einen Stuhl unter die Klinke gestellt. Dann hab ich nach der Mama geguckt, die besoffen auf dem Sofa lag und gerade versucht hat ihren Pulli auszuziehen, also ihr Kopf steckte da noch drin, ihre Arme auch, und sie kriegte es einfach nicht hin und schluchzte deswegen voll unkontrolliert vor sich hin. Dann bin ich wieder zurück ins Zimmer gegangen, und wir haben halt diese Autos weitergemalt, und dann rief sie plötzlich nach uns, und weil ich so tat, als würde ich das nicht
Weitere Kostenlose Bücher