Jage zwei Tiger
trotzdem schien ihm die Tatsache, dass sein Gehirn gerade beinahe von einer Stoßstange zerquetscht worden wäre, nicht viel auszumachen. Er bat die beiden darum, zehn Minuten zu warten, weil er in der Gegend wohnte und von zu Hause aus was zum Wegfegen holen könnte. Als er wegtrabte, rannte Silvana in die gegenüberliegende Ecke des Parkplatzes, hockte sich hin und vergrub ihren Kopf in den Händen. Sie heulte hysterisch. Detlev hielt kurz inne und riss im Rahmen einer Übersprungshandlung Kai aus dem Auto. Er packte ihn fest an den Schultern und schüttelte ihn.
»Es tut mir leid«, schrie er währenddessen mehrere Male.
»Schon verziehen«, sagte Kai, völlig unbeeindruckt.
Nach einiger Zeit kam der Motorradfahrer wieder, mit Müllbeuteln und zwei Besen. Zu viert sammelten sie die in einem Umkreis von zwanzig Metern verteilten Motorradteile ein. Als sie fertig waren, bot Detlev dem Jungen an, die Mülltüten zu entsorgen und ihn nach Hause zu fahren. Der wollte das jedoch auf keinen Fall und band die Tüten umständlich am verbliebenen, noch rollbaren Teil der Zweiradkonstruktion fest. Dann schob er es langsam in die Richtung, aus der er gekommen war. Nach zwanzig Metern fiel der Doppelkolbenmotor ab. Es war eines der niederschmetterndsten Bilder, die die drei Insassen des Autos je gesehen hatten, und löste eine allgemeine Sensibilisierung aus für die Scheiße, die ihnen selbst irgendwann zustoßen würde. Silvana schwieg die meiste Zeit der Rückfahrt, schreckte aber ab und zu von kurzen Seufzern geschüttelt auf. Detlev wechselte kein einziges Wort mit ihr und brabbelte mantraähnlich vor sich hin, er wolle nach Hause. Zu Hause im Townhouse war aber zwischenzeitlich der Kühlschrank kaputtgegangen, und deshalb lief flüssig gewordener Pansen aus der Tiefkühltruhe, was mehr stank als alles, was Kai je gerochen hatte. Das Licht ging nicht an. Silvana hatte es scheinbar weder hingekriegt, einen Dauerauftrag für die Gaswerke einzurichten, noch, anderweitig mit der »sich auf dem Schreibtisch anhäufenden Verantwortung« umzugehen. Sie suchte ein paar 90-Euro-Duftkerzen von Ralph Lauren zusammen und fing an zu putzen, Kai schlief fester denn je, sein Vater spielte abwechselnd Solitär auf seinem Laptop und telefonierte mit von ihm vertretenen Schweizer Künstlern, von denen sich einer, der hauptsächlich mit auf Alltagsgegenständen platzierten ausgestopften Tieren arbeitete, bereit erklärte, ihm für die Rückfahrt nach München seinen Porsche Carrera auszuleihen.
Als die drei am nächsten Morgen zusammen an einer S- Bahn-Haltestellte standen, inmitten Tausender besoffener Proleten, schwiegen sie noch immer. Bereits um zwölf Uhr war das komplette rudimentäre Organisationssystem der Stadt lahmgelegt, aus schlechten Boxen klangen Hardcorebeats, Menschen in bauchfreien Tops und Camouflageanzügen gaben sich unbeholfenen Bewegungsabläufen hin, es herrschte ein reaktionäres Rollback in die neunziger Jahre. In der S- Bahn wurde Silvana, die bisher nichts anderes gesagt hatte als »Pass auf, du trittst gleich in Kotze« und »Guckt mal, der Stuckaltbau mit Seeblick da drüben, den hab ich als Teenager mal besetzt«, von einem Typen gefragt, ob sie Ecstasy brauchte. Kai war schockiert und sein Vater in sein Handy vertieft. Silvana schüttelte lachend den Kopf, deutete auf Kai und sagte, dass ihr kleiner Bruder der Junkie sei. Kai wurde rot. »Wohin fahrt ihr denn?«, wollte der Dealer wissen, und Silvana antwortete, sie befänden sich auf dem Weg zum Anlegesteg des Motorboots ihres Verlobten, aber Kai habe dazu eh keinen Bock und würde vermutlich mitten im See von der Reling springen, um am Ufer ein bisschen mitdancen zu können. Dazu ein Lachen, mit dem sie unterstrich, dass Kai zu einfältigen Verhältnissen entstammte, um Interesse an Techno zu haben. Als Kai durchs Fenster auf Menschenmassen und metallene Gegenstände in Ohrläppchen blickte, wurde er unruhig. Er konnte Polizisten dabei zusehen, wie sie ein paar in die Limmat gesprungene oder hineingefallene Zivilisten ans Ufer beförderten. Kurz vor der Endstation schaute der Dealer auf seine gefakte Rolex. »Leute, es ist vierzehn Uhr. Versucht bitte mal kurz zu spüren, was hier passiert gerade, die Soundsysteme werden hochgefahren. Wir werden nicht umhinkommen, das als ›heiße Phase‹ zu bezeichnen. Überall neue Level von Extremität da draußen.«
Die Bahn hielt an, er verabschiedete sich und sprang die nach draußen führenden Stufen
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