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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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hören, kam sie irgendwann auf mein Zimmer zugestürmt und hämmerte gegen die Tür. Ich hab Dennis gesagt, dass er sitzen bleiben soll, und hab versucht zu lachen, aber ich hatte wirklich Angst. Ich weiß nicht genau wovor. Dann zwängte ich mich durch einen kleinen Türspalt zu ihr in den Flur. Sie hielt sich an mir fest, weil sie das Gleichgewicht verloren hatte. Und weil ich so Panik hatte, dass sie vielleicht doch noch ins Zimmer kommt, was sie aber eigentlich, glaub ich, gar nicht wollte, hab ich sie weggeschubst. Sie hat sich an mir festgehalten, und ich hab sie weggeschubst, und sie ist ein paar Meter nach hinten getorkelt und dann krass gestürzt, mit dem Kopf halt gegen die Türklinke, sodass ihre Nase geblutet hat. Sie lag da auf dem Boden. Und ich hab so gezittert. Dennis kam dann irgendwann doch noch raus, sah mich und machte mich so nach. Ich hatte wirklich Angst. Und Dennis steht da und sagt: ›Wieso zitterst du? Willste mal gucken, wie du aussiehst? So.‹ Und dann machte er dieses Zittern nach, wie in einem übertriebenen Comic, und ist dabei so rumgesprungen und hat Geräusche gemacht.«
    »Mmh. Nachvollziehbar.«
    »Keine Ahnung. Dann hat er gefragt: ›Ähm, warum ist deine Mutter hingefallen?‹ Weil er das irgendwie schon mal im Fernsehen gesehen hatte, also Alkoholiker und so, und wissen wollte, ob das daher kommt. Und dann geh ich allen Ernstes in dieser Übersprunghandlung von ›Normalitätaufrechterhalten‹–«
    »Wie bitte?«
    »Was?«
    »Hast du gerade ›Übersprunghandlung von Normalitätaufrechterhalten‹ gesagt?«
    »Ja, wieso?«
    Detlev grübelte kurz und gab seinem Sohn dann mit einem Abwinken zu verstehen, dass er weitersprechen solle.
    »Jedenfalls geh ich dann zur Mama hin, die ohnmächtig aufm Boden liegt, und frag so: ›Ähm, Mama, warum bist du hingefallen, Dennis will wissen, warum du hingefallen bist.‹ Und Dennis war das total peinlich. Dass ich das gefragt habe. Er wurde irre rot, im ganzen Gesicht, und ist aus der Wohnung gerannt. Und dann hat er nie mehr mit mir gesprochen.«
    »Das ist schlimm.«
    »Ja.«
    »Das ist total verheerend. Ich kann dir nur sagen, sie hatte auch Phasen, in denen sie ein toller, kluger Gesprächspartner war.«
    »Die Mama?«
    »Ja. Und ich hab auch viel gelitten damals. Zum Beispiel unter deinen Schwimmbadängsten.«
    »Schwimmbadängste?«
    »Weißt du das nicht mehr? Als ich dich früher ab und zu noch abgeholt habe. Na ja, und dann wolltest du irgendwann nicht mehr ins Schwimmbad, weil wir zum x-ten Mal erlebt hatten, dass, wenn wir aus dem Schwimmbad zurückkamen, da hatte sie die Zeit genutzt, und das war schrecklich. Und dann wolltest du einfach nicht mehr dahin, weil sonst die Mama wieder verändert gewesen wäre. Das war einer deiner ersten Sätze, die du gesagt hast. Die Mama ist verändert. Weißt du, was bipolar ist?«
    »Nein.«
    »Das ist eine Krankheit. Unkontrollierbare und extreme und verschiedene Auslenkungen der Stimmung. Also weit außerhalb des Normalniveaus. Ich glaube, deine Mutter war bipolar. So. Jetzt isses raus.«
    Kai schluckte, allerdings eher, weil ihm das angemessen vorkam und nicht wegen frisch aufgerissener emotionaler Abgründe. Die Situation gehörte zu den gefühlsneutralsten der letzten Woche, und die Entscheidung zu dieser ungewohnten Ehrlichkeit empfand er als beruhigend.
    »Und ich bin der Meinung«, fuhr Detlev fort, »dass der Alkohol und die Drogen nur zur Rationalisierung dieser Gespaltenheit dienten. Damit hatte sie irgendein Argument. Und sie konnte – also ich meine, wie sie da, als ich damals kam und sie aus der Klapsmühle geholt hab, da saß sie da im Stuhlkreis zwischen den ganzen Irren und war praktisch schon die Therapeutin. Das konnte sie.«
    »Warum Klapsmühle?«
    »Weil sie oft vollkommen fertig war und in der Öffentlichkeit rumgebrüllt hat. Da warst du noch ein Baby. Irgendwann war ich im Ausland, und da hat sie sich beinahe vom Balkon gestürzt und auf die Straße runtergerufen: ›Palästina gibt es nicht.‹ Und da haben sie sie abgeholt, und die Nachbarin rief mich an. Ich kam relativ früh morgens, am nächsten Tag, mit dem Zug aus Italien. Um neun oder zehn und fuhr zu dem Krankenhaus, dessen Adresse mir die Nachbarin gegeben hatte. Und dort sagten sie bei der Pforte: Ja, ja, Ihre Frau, die ist da oben in der Abteilung. Und da war sie halt in so ner richtigen geschlossenen Anstaltsabteilung. Das Irre war, dass sie die Tür aufmachte. Zu dieser angeblich geschlossenen

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