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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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ihrem Grabstein steht irgendein protestantischer Blödsinn, obwohl da ›Selbstkasteiung in eigener Sache‹ hätte stehen müssen. Sie war Schauspielerin. Statt sich auf der Bühne auszuziehen und vergewaltigen zu lassen, hat sie allerdings irgendwann reich geheiratet. Bestätigung empfand sie leider immer nur, wenn sie irgendwelche durchlebten Höllenqualen Revue passieren lassen und demonstrativ darüber heulen konnte.«
    »Und wer wohnt da jetzt?«, fragte Detlev.
    »Mein Bruder mit seiner Frau. Und ein bisschen Nutzvieh, Schafe, Kühe, unter der Aufsicht demetergeprüfter Biobauern. Ist doch schön, dann sieht der Junge mal echte Tiere.«
    Kai guckte Silvana aus diversen Gründen angewidert an.
    »Stimmt doch. Nicht immer nur Kunstschickeria, Baggerballetts, da, wo du herkommst, sprechen alle über minimalistisch-praktische Inneneinrichtung, obwohl sie Ikea verachten, aber Kühe und so was? Fehlanzeige.«
    »Hast du gerade Fehlanzeige gesagt?«
    »Habe ich gerade Fehlanzeige gesagt?«
    »Silvana?«
    »Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich bin jetzt jedenfalls vier Stunden Auto gefahren, Jogginghose, Haare fettig, ungeduscht, Hunger, keine Kippen mehr, wir quälen uns da rauf und hoffen inständig, niemandem zu begegnen, der uns irgendwie gefährlich werden könnte. Meine Schwägerin hat einen Vollschaden, ihr Sohn nicht minder, ein anfangzwanzigjähriger Autist, der ständig irgendwo auf dem Rücken liegt, um seine Umgebung aufzusaugen. Manchmal improvisiert er auch was Zeitgenössisches auf der Orgel. Und mein Bruder, nun ja, fünfzig geworden, anal veranlagter Vollhonk und eigentlich eine arme Sau. Er nimmt sich zu wichtig und hat Jahre seines Lebens entweder belanglosen Schrott von sich oder Lokalblättern sogenannte Stilinterviews zum Thema Silberbesteck gegeben. Inzwischen interessieren ihn Weltkriege.«
    »Sachen gibt’s.«
    »Wollt ihr was wirklich Krasses hören? Was fundamental Schockierendes? Etwas so Hartes, dass ihr von nun an jeden meiner diktatorischen Züge für den gesunden Nebeneffekt meiner Sozialisation halten werdet?«
    Silvana geriet in eine geheimnisvolle, fast heimtückische Attitüde, die ihr gut stand, zum ersten Mal empfand Kai einen Anflug von Bewunderung für sie, weil ihr das Dilemma ihrer Herkunft so ungefiltert ins Gesicht geschrieben stand, dass alles, was man ihr zum Vorwurf machen konnte, nur noch etwas sehr Nachvollziehbarem geschuldet war, ihrem Stolz nämlich, dem Vergnügen an Rebellion. Nachdem sie auf einer Art Sandweg an von Landschaftsarchitekten konzipierter Urwaldvegetation entlanggefahren waren und sich nun in hundert Metern Entfernung vor einem denkmalgeschützten Holzhaus befanden, wies Silvana Detlev an, das Auto zu parken. Hier, vor ihrem Elternhaus, blickte sie ihm seufzend ins Gesicht und erzählte mehr oder weniger detailliert davon, wie ihr zweiter Bruder im Spätsommer 1996 zwei seiner Kinder und seine Frau mit einer Selbstladeflinte erschossen hatte.
    »Ich bin nicht der Mensch, der bei so was moralisch betrübt im Hintergrund steht. Und ich frage auch nicht mit zittriger Stimme, was denn mit den Kindern ist. Oder so«, fügte sie hinzu. »Aber eins von ihnen hat überlebt. Als würde es sein Erbe forttragen müssen, ein Mädchen, irgendeine das Weltgeschehen beeinflussende Grundkraft ist die vielleicht jetzt, keine Ahnung. Findet ihr so was interessant? Jagt euch das irgendeine Form von wohligem Schauer über den Rücken? Es ist sick, was hier abgeht. Menschen sind soziale Wesen und auf Geschichten über sich und ihre Beziehungen angewiesen, wir ahmen nach, wir brauchen die abgebildete Fantasie eines anderen, um nach ihrem Muster handeln zu können. Wir brauchen Bilder, die unsere Bedürfnisse konkretisieren. Keine Ahnung, was dieser Arsch da im Fernsehen gesehen und plötzlich als einzige angemessene Bekämpfung seiner Depression interpretiert hat. Holy Shit, lasst uns aussteigen.«
    Die drei stiegen aus und gingen auf das Haus zu, als sei es eine Kathedrale, die Tür öffnete sich, und Silvanas Schwägerin stürmte heraus, zwanzig Jahre älter zwar, aber in der fast identischen Anordnung überteuerter Stilbrüche, elegantes Tweed zu Vintageprints, die in Schwarzlicht psychedelisch zu leuchten beginnen würden. Sie wirkte etwas lädiert, weil eine dicke Strähne ihrer ansonsten gleichmäßig auf die Schultern herabhängenden Frisur nur halb so lang war wie die anderen. Als Silvana ihr bereits von weitem zurief, sie sehe irgendwie komisch aus, antwortete

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