Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
Vom Netzwerk:
Mal ein Mädchen, zwei Wochen später einen Jungen, beide unabhängig voneinander zu dem Song »Primitive«, der sich unter seinen neuen Freunden zu einer Art Hymne entwickelt hatte. Währenddessen stellte er zwei Dinge fest: erstens, dass er rein sexuell niemals Unterscheidungen zwischen Männern und Frauen zu treffen brauchte, und zweitens, dass der Moment, in dem er Samantha begegnet war, nichts mit einer ihm bekannten Welt zu tun gehabt haben konnte. Die Erinnerung an sie wurde zu einem unberechenbaren Monster, manchmal konnte er sich nicht mal mehr bewegen. Wenn er Eric Burdon sah, wie der bei einer Fernsehaufnahme mit durchnässten Klamotten zehnmal hintereinander den Satz »You got spirit, babe« schrie, spürte Kai, dass er Samantha mit derselben Attitude gegenübertreten musste. You got spirit. Er fragte sich, warum er sich fühlte, als würde er zu ihr gehören. Es hatte nichts mit Projektionen zu tun. Eher mit Reinkarnation, der Begegnung in einem früheren Leben. Es hatte nichts mit Obsession zu tun, eventuell eher mit Langweile. Er liebte sie. Das war das Einzige, was er formulieren konnte. Der einzige ungefiltert hervorbrechende Satz, der sich als Ohrwurm durch die Scheiße fräste und sein sogenanntes Leben durchdrang, so indiskutabel, so scheiße, so geil. Und, in seiner richtungweisenden Strenge an Professor Moriarty erinnernd, stand dann immer auch Jonas in der Gegend rum, aufrichtig, loyal, in androgynen Outfits und einer unangreifbaren Verbundenheit zu ihm.
    Detlev hatte im Laufe seines vegetativen Erschöpfungszustands eine wichtige Entscheidung getroffen und ein Buch, das Irre hieß, mit der Rückseite nach vorne auf seinen Nachttisch gestellt. Nun stand da nicht mehr Irre, sondern »Don’t Cry. Work«, und an dieser Aufforderung hatte er sich über Monate hinweg abgearbeitet, Hemden gekauft, Germknödel zuzubereiten gelernt und regelmäßig geduscht. Er ging zu Abendessen und kehrte erst zwei Tage später durchgefeiert zurück. Trotzdem hielt er sich an irgendeine rudimentäre Struktur, arbeitete wie blöd und war verlässlich, wenn er es sein musste. Ab und zu wohnten aus dem Ausland angereiste Künstler in Susannes ehemaligem Zimmer. Einer von ihnen, dessen detaillierte Kohlezeichnungen abgetrennter Körperteile kurz mal in gewesen waren und jetzt bei einer Retrospektive in Bolivien reaktiviert werden sollten, hatte Kai unter Tränen eingeschärft, dass er sich niemals, wirklich niemals verlieben, sondern lieber umbringen solle. Ein anderer war aus L.A. nach München zur Eröffnung seiner Ausstellung gekommen, hatte aber bereits am Flughafen wieder kehrtgemacht, um zurückzufliegen. Und ein Mitte dreißigjähriger Engländer, dessen hauptsächliches Schaffen inzwischen nur noch darin bestand, die Handyaufnahmen von seinem Chihuahua auszustellen, hatte unter Drogeneinfluss einen Pinguin aus dem Zoogehege entwendet und deshalb sieben Tage in Untersuchungshaft gesessen.
    Kai und Jonas liefen eines Nachmittags durch Matsche zu Kai nach Hause, redeten über Bryan Ferry und das Scheißwetter, es war Winter, und als sie sich im Hausflur ihre Schuhe auszogen, hörten sie durch die Wohnungstür eine Frauenstimme und sehr lauten Hip-Hop. Seit Susannes überstürztem Auszug hatte Detlev nichts mit Girls gehabt, abgesehen davon, dass ihn wochenlang eine borderlinegestörte Kunstkritikerin gestalkt und ihm aus Verzweiflung fast eine Vergewaltigung angehängt hatte. »Evangelisches Gesicht mit Amokdekolleté«, hatte er sie genannt oder »typisch deutsche Ackerstute, die Männer hasst, humorlos, bieder, macht einen auf sexy, wenn eins gesoffen, aber sehr vulgär aus der westdeutschen Provinz und voller öder Kinderscheiße, Vorurteile und Klischees, wie zum Beispiel: Liebe muss weh tun. Bullshit.«
    Kai betrat die Wohnung, Jonas folgte ihm, und im Verbindungszimmer zwischen zwei Fluren saß Detlev mit dem Rücken zu ihnen am Esstischgestell. Er las einem unter zwanzigjährigen Mädchen aus dem Justizteil der FAZ vor. Sie saß auf einem Sessel und starrte in das an die Soundanlage angeschlossene MacBook. Sie trug Schiesserunterwäsche, nicht im Geringsten sexuell gemeint, und hatte zusammengebundene dunkle Haare. Sie schien sich ihr Leben lang auf ihre Gefühle konzentriert zu haben. Hätte Kai mehrere Semester kognitive Neurowissenschaften hinter sich gehabt, hätte er in ihr gleichzeitig die Fähigkeit zu demonstrativer Verachtung und ein eigensinniges Gerechtigkeitsgefühl erkannt. Und dass sie etwas

Weitere Kostenlose Bücher