Jage zwei Tiger
dritte mit dem verschrobenen Gedanken, dass sie keine Psychopathin sei, sondern spätpubertär und deshalb für die nächsten zwei Jahre in einer Phase unausweichlicher Schizophrenie gefangen.
Der Bahnhof war fast leer, in dem zwei Meter breiten, um einen Aschenbecher aufgemalten Quadrat stand ein Vater mit seiner achtjährigen Tochter, die bitterlich weinte. Die Putzfrau hatte ihre Urzeitkrebse aus dem Mickeymouseheft für altes Blumenwasser gehalten und in den Ausguss gekippt. Weltuntergang. Cecile musste unweigerlich mitheulen. Es war ihr immer schon leichtgefallen, wie ein Junkie auszusehen, in diesem Extremzustand von mit Schuldgefühlen gekoppelter Ungewissheit wirkte sie jedoch wie eine kurz vorm Genickschuss aus dem KZ ausgebrochene komplett Irre. Cecile zündete ein Streichholz, danach die Streichholzschachtel und mit der Streichholzschachtel die Zigarette in ihrem Mund an. Unsympathischerweise kam sie sich dabei cool vor. Sie ließ die Schachtel so lange in ihrer Hand, bis die Haut an ihren Fingerspitzen unter den Flammen abzublättern begann und sich der Geruch von verbranntem Menschenfleisch ausbreitete. So hatte es also im Zweiten Weltkrieg gerochen, dachte sie, überall, und die Todeszüge waren durch die Bahnhöfe gefahren, und die Zugfahrer hatten ihre Prämien in Alkohol ausgezahlt gekriegt, weil sie die nach Angst und Verwesung riechenden Ausdünstungen der zu Vernichtungszwecken transportierten Lebewesen andernfalls nicht ertragen hätten. Durch den Gestank ihrer eigenen verbrannten Haut spielten sich in ihrem Innern so detailreiche Einzelschicksale zu Tode verurteilter Menschen ab, dass sie würgen musste. Die Leere in ihr wurde brutaler, genau wie die individuellen Todesarten und die an ihr Ich gerichtete Aufforderung einer irgendwo im Unterbewusstsein vergrabenen Moralinstanz, sich zu entscheiden. Sie wusste wofür und wogegen. Sie stufte sich unter den Schlägen der immerwährenden Annahme, sie selbst sei ihr größtes Problem, als potenziell böse ein. Sie wäre zwar keine gute Diktatorin geworden und auch keine gute Auftragskillerin, aber natürlich problemlos dazu in der Lage, jemandem aus situativem Hass eine Ratte im Käfig auf den Brustkorb zu setzen, aus dem sich das Tier durch die Eingeweide des gefesselten Opfers einen Ausweg graben würde. Et cetera, et cetera.
Cecile entschied sich im Rahmen eines unter Tränen abgegebenen Schwurs, im Regen, vor dem dunkelgrauen Himmel einer Stadt am Rheinufer, es nie so weit kommen zu lassen. Sie entschied sich, gut zu sein. So wie ein pädophiler, aber rational okay funktionierender Mann sich dafür entschieden hätte, den Rest seines Lebens Kindern auszuweichen. Der Gedanke, dass sie diese Boshaftigkeit besser in den Griff bekommen würde als der sich für moralisch unanfechtbar haltende Rest der Menschheit, verschaffte ihr ein beruhigendes Gefühl von Überlegenheit. Und während sie sich in dieser allgemeinen Auflösung Mut und Kraft zusprach, zwischen imaginierten Blumenwiesen und dem Lärm der Blutbäder, verließ Cecile als Besiegelung ihrer Entscheidung völlig unvermittelt ihren Körper. Alle Lichter knallten durch, ihre Augen, ihr Gehirn wurde zu einer Art Fluss, und sie sah sich selbst aus drei Meter Entfernung auf der Holzbank am Gleis sitzen, leichenblass, gleichermaßen zaudernd und energisch in einer Haltung, für die der Ausdruck »verkrampft« nicht ausreicht. Sie hatte keine Ahnung, was los war, nahm diese neue Stufe der Wahrnehmung aber selbstverständlich hin. Als von ihrem Körper abgespaltenes, trotzdem zu Gefühlen und körperlichen Wahrnehmungen fähiges Wesen schwebte sie gefäßlos ein paar Runden um das Gleis, durch Steinmauern hindurch, in jenseits unserer bisherigen Sphäre liegende Ebenen von Empfindungen und an der größten Gletscherspalte des Kilimandscharo entlang.
Als sie in ihren Körper zurück kehrte, war sie zum ersten Mal von der Existenz eines Lebens nach dem Tod und davon überzeugt, dass sie sich niemals botoxen lassen würde.
Zwanzig Minuten später stand Julia vor ihr.
Julia trug einen Armeeparka zu expressivem Lidstrich. Ihr Gesicht hatte sich innerhalb der letzten drei Jahre kein bisschen verändert, Cecile kannte sich noch immer sehr gut darin aus.
»Da bist du ja wieder!«, sagte Julia, als seien seit ihrer letzten Begegnung nur fünf Minuten vergangen. An Julia war alles groß geworden, ihre Brüste, ihre Augen, ihre Lippen, sie hätte ohne weiteres als Pamela-Anderson-Verschnitt an einem
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