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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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erlebt hatte, das weit über ihr Alter oder diesem Alter zugeordnete, gesellschaftlich akzeptierte Erfahrungswerte hinausging. Kai sah sie an und fand ihre Zartheit interessant. Sie war irgendwas zwischen Haarefärben und einer wichtigen Rolle in der Lokalpolitik. Eine Mischung aus Susanne, Silvana und einem chilenischen Waisenkind, sehr mager, durch Säure verfärbte, ungesunde Zähne und rote Stellen an den Knöcheln der Finger, die sie zum Kotzen benutzte. Und sie hatte was mit ihm zu tun, das spürte er, ohne dass dies etwas anderes in ihm auslöste als gelassene Verwunderung.
    Sie sah Kai und Jonas im Türrahmen, zeigte aber keinerlei direkte Reaktion, sondern stand auf und ging langsam zur Fensterbank. Sie nahm ein Opernglas in die Hand, hielt es sich vor die Augen und guckte in die Richtung der beiden. Den rechten Arm stützte sie an ihrer Hüfte ab, auf das linke Bein verlagerte sie ihr Gewicht. Kai wollte nicht der Erste sein, der etwas sagte, und die Scheiße souverän durchhalten. Er sah zu Jonas, der bleich war und, Kai hatte das, seit er ihn kannte, nicht erlebt, uncool bis zum Get-no sekündlich seinen Gesichtsausdruck veränderte. Weil das Mädchen nach fünfzig Sekunden noch immer unverändert dort stand, mit diesem Fernglas, und Jonas unruhiger wurde, kam Kai nicht umhin, an den Türrahmen zu klopfen und »Hallo« zu sagen.
    Detlev fiel fast vom Stuhl, als er sich umdrehte, und sprang zum Computer, um die Musik auszustellen. Dann sagte er »O Gott« und deutete unbeholfen auf das Mädchen, als müsste er die Jungs auf dessen Anwesenheit aufmerksam machen. »Das ist mein Sohn. Kai. Also, der Linke«, sagte er zu ihr.
    Sie antwortete: »Komisch, ich seh nur Hautunreinheiten.« Dann legte sie das Fernglas weg, lächelte entschuldigend und machte eine Geste, in der es darum ging, dass sie selbst schon lange von ihren eigenen blöden Scherzen genervt sei.
    »Ich bin Cecile«, sagte sie. »Ich wohne ab jetzt hier. Beachtet mich einfach nicht. Ich beachte euch ja auch nicht.«

 
     
    13
     
    Nachdem sich Cecile in einen nach Helmut Schmidt benannten Regionalzug gesetzt und »what the fuck« gesagt hatte, musste sie darüber nachdenken, was ihr bisheriges Leben gewesen war. Sie sah sich ihre Handflächen an und danach einen übergewichtigen Hern, der ihr gegenübersaß. Er starrte lange auf den Elefanten und dann auf sie, ihre angeschimmelten Klamotten und die zwischen fettigen Haarsträhnen freigelegten Kopfhautpartien. Irgendwann stieg sie aus, am Hauptbahnhof einer Stadt, die sich Worms nannte. Dass sie vor Kälte zitterte, fasste sie obligatorisch als kalorienverbrennende Disziplinierungsmaßnahme auf, es ging ihr gut, zur Beruhigung hörte sie redundantesten Gabbasound einer Electropunkband aus Versailles, dachte derweil an im Rahmen von Völkermorden abgeschnittene äußere Geschlechtsmerkmale, verstümmelte Gliedmaßen und zwölfjährige Jungs, die dazu gezwungen wurden, zuerst ihre Mütter zu vergewaltigen und danach den Rest der Familie mit einer Getreidesense abzuschlachten. In Gedanken ließ sie völlig ungefiltert alle sadomasochistischen Fantasien über sich hereinbrechen, die sie aus Aberglauben bisher vermieden hatte. Sie wusste, dass man aufpassen muss, was man sich wünscht, weil die meisten Wünsche in Erfüllung gehen. Sie wünschte sich den Tod ihrer Eltern. Sie stellte sich vor, dass die Flammen vom Bungalow des Hausmeisters auf die Villa übergegangen waren, fünfundzwanzig Prozent der Hautoberfläche ihres Vaters verkokelt, zerstörte Nervenendigungen und der Untergang seiner kompletten Zellpopulation durch Sauerstoffmangel, ihre Mutter lag in der Mitte des Salonzimmers, zwischen dem Minottisofa und einem Jürgen-Teller-Original, auf dem Charlotte Rampling ihm sehr erhaben dabei zuguckt, wie er seinen Arsch in die Kamera hält. Die Körper wurden nach dem Tod durch Ersticken im Feuer wieder lebendig, wegen der durch Hitze reaktivierten Reflexe ihrer Gelenke.
     
    Stattdessen saßen die beiden gerade vermutlich in Decken gewickelt auf einem Treppenabsatz, scherzten mit Polizisten über Facebook und sprachen sie vielleicht in einem Nebensatz darauf an, nach wie vielen Monaten Abwesenheit rebellischer Teenager man erwägen solle, eine Vermisstenanzeige aufzugeben.
    Cecile fragte sich erstens, ob sie vollkommen pervers war, zweitens, ob sie je jemanden geliebt hatte, und drittens, was hier eigentlich gerade abging. Die ersten beiden Fragen beantwortete sie sich mit einem lauten Nein, die

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