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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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sodass sie im einheitlichen Rest der Faserzwischenräume verschwand. Weitere zwei Minuten später saßen sie nebeneinander in Kais neuer Klasse, in der Jonas aufgrund einer angeborenen, früh ausgereiften Nonchalance als mit Respekt zu begegnendem Meinungsführer galt. Er fand Gleichaltrige langweilig und behandelte sie trotzdem zuvorkommend. Dadurch, dass er Kai beim Reingehen auf die Schulter geklopft hatte und während der obligatorischen Vorstellungssätze neben ihm stehen geblieben war, suchten die anderen in Kais Gesicht nicht nach Gründen, derentwegen sie ihn nach Schulschluss in die Mülltonne hätten verfrachten können. Sie suchten in seinem Gesicht ausschließlich nach Informationen über seine im Bruchteil einer Sekunde von Jonas auf ihn übergegangene Coolness. In der Pause umriss Jonas in wenigen sehr prägnanten Sätzen zu jeder Person, dass die alle zwar freundlich, aber zu langweilig seien, um sich in gesteigertem Ausmaß für sie zu interessieren. Zwischen den beiden herrschte eine derartige Vertrautheit, dass man den Umstand, wie schnell sie zustande gekommen war, nicht in Frage stellen musste. Jonas zeigte Kai auf seinem Handy ein in New York gedrehtes Hip-Hop-Video von zwei Upperclassmädchen, die sich gegenseitig mit Champagner bespritzten. Er lachte, als Kai in einem Zynismus, der sich für Dreizehnjährige nicht gehört, sagte: »Tja, so slutty Crackhuren sind immer irgendwie auch heiß.«
    »Zumal die das auch todernst meinen. Also, so ernst man eben Dinge meinen kann, die man völlig drauf gegen 7:30 Uhr tut. Kennst du diesen komischen Film, in dem Nicolas Cage so ein romantischer Exknastbruder ist und ständig die kleinen Vollzugsbeamtinnen anbaggert, völlig beknackt?«
    »Und am Ende wird er von den extremsten Gangstern verfolgt, aber sein Hauptproblem ist, dass er die Windeln für sein Kind im Supermarkt vergessen hat?«
    »Geil, ja. Ein bisschen so sind die in dem Video auch, oder? Scheiße, mir ist langweilig.«
    »Scheiße, mir auch.«
     
    Schräg hinter Kai saß Tim Wazlawski. Tim Wazlawskis Großmutter hatte ihr Leben lang von Plastikgeschirr gegessen und in dieser zwangsneurotischen Sparsamkeit so viel Vermögen angehäuft, dass er mit seinen Prollo-Eltern nach ihrem Tod aus einer Plattenbauwohnung in eine Villa in Schwabing gezogen war. Er war ein sadistisches Schwein und wurde vom Rest der Schüler cool gefunden, weil er mehrere Referendarinnen zur Unterhaltung der Klassengemeinschaft in die Klapsmühle gebracht, einem übergewichtigen Mitschüler die Fresse poliert und sein Vater einen Jaguar E hatte. Außerdem war er auf eine ähnliche Weise gutaussehend wie Markus Lanz und der einzige Mensch, über den Jonas geäußert hatte, dass er ein Arschloch sei.
    Jedenfalls war Kai bereits mehrere Tage morgens aufgestanden und ohne Angst zu haben zur Schule gegangen, als Tim Wazlawski plötzlich während des Unterrichts auf seine Schnellhefter kotzte, er war schon eine halbe Stunde lang ziemlich grün im Gesicht gewesen. Die Lehrerin konnte schlecht mit der Situation umgehen. Unangenehm berührt empfahl sie ihm, ins Direktorat zu gehen und sich dort krankzumelden. Nach wenigen Minuten betrat eine Putzfrau den Biologieraum und wischte die Kotze weg. Es herrschte Stille, eine sogenannte bleierne Schwere lastete über den zweiundzwanzig verbliebenen Achtklässlern. Mit einem solchen Drama war bisher anscheinend noch niemand konfrontiert worden. Man konnte sich nicht entscheiden zwischen Spott, Mitleid und der zu ergreifenden Chance, Tim Wazlawski nach einem derartigen Fauxpas endlich die Unangreifbarkeit seines Status streitig zu machen. Das unkomplizierte und sichere Fundament präpubertärer Verhältnisse hatte einen Riss bekommen, und das rief bei nahezu allen Beteiligten eine Unsicherheit hervor, die nur durch Starrheit aus der Welt geschafft werden konnte. Die Lehrerin fuhr mit ihrer Abhandlung über die verschiedenen Formen von Wachstum fort. Der Großteil der Schüler hatte sich bereits vor dieser Unterrichtsstunde entschieden, niemals auf ein Wissen über Zellzyklen angewiesen zu sein. Deswegen ging es heute um nichts anderes mehr als die beängstigende Tatsache, dass sich etwas verändert hatte. Tim Wazlawski würde aufgrund einer ernsthaften Magenverstimmung zwei Tage später nicht mit auf einen Klassenausflug in den Zoo kommen. Man würde sich auch in seiner Abwesenheit darüber beschweren, dass das Reiseziel nicht adäquat sei, man würde auch ohne ihn irgendwelche

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