Jage zwei Tiger
Jägermeisterflaschen durch den Eingang geschmuggelt bekommen und daraufhin so tun, als sei man betrunken, auch ohne ihn würde sich Charlene Weiher ihr Gesicht mit Make-up in zu dunklem Farbton zuklatschen und vierzehnmal hintereinander den Satz wiederholen: »Ich friere, ich will Sushi, ich will auch coole Freunde.« Und Kai und Jonas würden sich von den anderen absetzen, um alleine durch die Gegend zu tigern.
Auf der vierzigminütigen Rückfahrt in verschiedenen S- Bahnen bemerkte Kai plötzlich, dass sich die realen Machtverhältnisse verschoben hatten, und zwar zu seinen Gunsten. Und dass die Verzweiflung abnahm. Es wirkte fast so, als hätte sich im kollektiven Unterbewussten der Klasse 8b die Entscheidung breitgemacht, Herr-Knecht-Strukturen radikal aufzulösen. Kai und Jonas galten innerhalb dieses Prozesses als Vorreiter von etwas, auf das die anderen scharf waren. Kai konnte von nun an tun, was er wollte. Er konnte ein Interesse an der Akkuratheit binomischer Formeln entwickeln, weil er während des Mathematikunterrichts nicht mehr damit beschäftigt war, keinen Filzstift in die Fresse zu kriegen. Er konnte in die Einrad- AG gehen, ohne beschimpft zu werden, und Jonas dorthin sogar mitnehmen, weil der sich schon seit dem Kindergarten statt für Fußball für Jazzdance interessiert hatte, wegen der Mädchen. Er konnte gerechtigkeitsstiftend in Auseinandersetzungen eingreifen und in einem Sex-Pistols- T -Shirt auftauchen, ohne dass ihn jemand deshalb kritisch beäugt hätte. Kai musste seine Entscheidungen von nichts anderem mehr abhängig machen als seiner eigenen Entscheidungsfreiheit, und das war mehr, als die meisten von sich behaupten konnten.
Jonas’ Mutter hatte ihn mit achtzehn bekommen und vergangenes Jahr einen seiner Freunde entjungfert. Er wohnte mit ihr in einer kleinen Wohnung zusammen mit zwei Leguanen und einer Bulldogge, die nach Lemmy von Motörhead benannt worden war und sich auf Kommando im Kreis drehen konnte. Sein Vater war an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben, als Jonas drei Jahre alt gewesen war, aber darüber redete er mit Kai nicht, weil er das gar nicht musste. Sein Zimmer war zwölf Quadratmeter groß und dunkelgrau gestrichen. Das Rammsteinposter über dem Bett wirkte, als hätte er es dort bereits als Säugling hingehängt. Nichts in diesem Zimmer ließ darauf schließen, dass Jonas mal ein Kind gewesen war, und das gefiel Kai ganz gut. Nach der Schule lernte Kai nach und nach Jonas’ Freunde kennen, zumeist drei- bis vierköpfige Gruppen etwas älterer Teenager, die, egal ob weiblich oder männlich, schwarzumrandete Augen hatten, sich in ihrer äußerlichen Erscheinung zwischen Leichenparfum und Gangsterrap aufhielten und bis zu zehn Instrumente spielten. Es wurde in Parks gekifft, es wurde in eine leerstehende Schule eingebrochen und ein Springbock aus der Turnhalle entwendet. Irgendwann stand Kai vor dem ausrangierten Plattenspieler seines Vaters, den Jonas für ihn repariert hatte, hörte einen Song von David Bowie und begann aussehen zu wollen wie provinzielle Teenager der siebziger Jahre, mehr so auf Englisch, Rhythm and Blues, vermischt mit ein bisschen Späthippie und violetten Lederjackets, er befand sich zwischen smarten Jugendlichen, die die Biographie von Buster Keaton und eine fünfbändige Ausgabe von Jules Michelets Geschichte der französischen Revolution gelesen hatten. Eins der Mädchen sah aus wie eine Mischung aus Helge Schneider und Kim Basinger, wollte Soziologie studieren und danach Hebamme werden. Einer der Jungen war Kfz-Mechaniker und hatte, bevor er von seinen Professoreneltern abgehauen war, als Rache deren Bücher nach Farben sortiert. Sie alle waren ziemlich hübsch und im falschen Jahrzehnt geboren worden. Sie planten, nach Indien zu trampen. Sie tauschten Schallplattenartifakte aus der ersten Punkära und DVD s aus. Noch fünfzig Jahre später würden alle an dieser konspirativen Clique Beteiligten für ihre gemeinsame die Welt verändernde Liebe zu psychedelischer Rockmusik aller Schattierungen dankbar sein, Songs von gestern und vorgestern.
Kai nahm einige seiner neuen Freunde manchmal mit zu sich nach Hause, sein Vater war entweder nicht da, und wenn doch, stellte er ihnen unkommentiert Aschenbecher auf den Küchentisch und merkte nichts anderes an, als dass sich in der Abstellkammer ein paar Luftmatratzen befänden, die am nächsten Morgen aber bitte wieder zusammengefaltet dorthin zurückgelegt werden sollten. Kai küsste zum ersten
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