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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Strand entlangjoggen können, stattdessen trug sie unförmige Oberteile und bemühte sich zwei Oktaven tiefer zu sprechen. Sie sah Cecile an, Cecile sah sie an, dann umarmten sie sich, obwohl beide Umarmungen hassten. Zwei Sekunden später brachen sie in einen hysterischen Lachanfall aus, weil sie feststellten, dass sie das gleiche Paillettendings einer Billigkette mit den gleichen von einem frauenfeindlichen Rapper entworfenen, potthässlichen Turnschuhen kombiniert hatten, eines Statements wegen, das niemand außer ihnen verstehen würde.
    Als sie auf der Rolltreppe standen, fragte Julia, was passiert war. Cecile spielte mit dem Gedanken zu lügen, dass ihre Eltern bei einem Motorradunfall gestorben seien, sagte stattdessen aber gar nichts. Julia hakte nicht weiter nach, sie sprach Cecile auch nicht darauf an, dass sie stank und sich zum Negativen verändert hatte. Sie sagte nur: »Du siehst rührend und kränklich aus und als seist du finally und überstürzt ausgebrochen aus der ganzen Kacke«, woraufhin Cecile nickte. »Das war doch klar«, fuhr Julia fort, sie liefen durch die unter der Erde angelegte Bahnhofshalle. Eine alte Frau mit Schiebermützchen auf dem Kopf, komplett besoffen, irrte von den Fahrkartenautomaten zum geschlossenen Blumenladen und wieder zurück, wischte sich bewegungseingeschränkt wie ein Kleinkind Tränen aus den Augen und versuchte zu lächeln, wenn jemand sie ansah. Cecile lächelte zurück.
    »Ich wusste immer, dass die Zukunft für uns dann insgesamt dieselbe sein würde irgendwann mal. Dieselben Leidenschaften, dieselben Plackereien, dieselbe niederschmetternde Scheiße, dieselben Krankheiten, dieselben unmittelbaren Zerstreuungen, ob nun fleischlicher oder geistiger Natur«, sagte Julia.
    »Warum sprichst du so irre?«
    »Standst du da nicht mal drauf früher? War das nicht so ne Art Running Gag?« Julia lachte, Cecile konnte sich vage an mit ihr geteilte sprachliche Versiertheiten erinnern und lachte mit, die betrunkene Frau lachte auch, und so gingen sie zu dritt, ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, zu McDonald’s.
     
    An der Theke bestellte Julia irgendwas Angemessenes, Cecile nach langer Entscheidungsunfähigkeit einen Sechser Chicken McNuggets, von denen sie am Plastiktisch vor einer Fensterfront, mit Ausblick auf das verkümmerte Wormser Rathaus, die Panade abknibbelte. »Warum machst du das?«, fragte Julia, und Cecile leierte reflexhaft irgendeine eingeübte diffuse Abhandlung über Glutenunverträglichkeit und Insulinresistenz runter.
    Julia sagte: »Bullshit, iss alles, was du willst, und geh kotzen später, mich stört das nicht«, woraufhin Cecile sich zwei Big Mac bestellte und beschloss, anstatt kotzen zu gehen am nächsten Tag nichts zu essen.
    »Und du?«, fragte sie, als die Packungen leer waren.
    »Ob ich in irgendeiner Form noch essgestört bin? Nein, ich bin verliebt, abgöttisch.«
    »Warum warst du damals plötzlich weg?«
    »Das weißt du doch«, sagte Julia und strich sich dreimal hintereinander dieselbe Strähne aus dem Gesicht.
    »Nein, ich weiß gar nichts, ich kenn nur die Eckdaten«, sagte Cecile. »Du warst sozusagen gestorben, verdammt. Vier Monate bin ich jeden Morgen aufgewacht, dachte zehn Sekunden, dass alles okay sei, und fing dann unvermittelt an zu heulen, weil mir klarwurde, dass du nicht wiederkommen würdest.«
    »O Gott, wie niedlich.«
    »Ich war verloren ohne dich. Klingt pathetischer, als ich’s meine, trotzdem.«
    Cecile meinte es genauso pathetisch, wie es geklungen hatte. Weil Julia eins der wenigen Male in ihrem Leben Verlegenheit zeigte und sie sie gut genug kannte, um zu wissen, dass diesbezüglich nicht viel mehr aus ihr rauszuholen war, guckte sie kurz aus dem Fenster und seufzte laut.
    »Wie geht’s deiner Mutter?«, fragte sie dann.
    »Die ist unglaublich«, sagte Julia. »Hat jetzt nen neuen Job. Sie passt auf ein schwer erziehbares Kind auf, das ihr vom Jugendamt zugeteilt wurde.«
    »Und die wohnen zusammen?«
    »Ja. Und dafür kriegt sie Geld und eine große Wohnung gestellt.«
    »Und hast du’s gesehen?«
    »Wie bitte?«
    »Du hast gerade erzählt, deine Mutter wohnt jetzt mit nem schwer erziehbaren Kind zusammen.«
    »Ja, das Kind hab ich gesehen, klar. Vierzehnjähriges Mädchen, irgendwie Rauschgift, kennste ja. Und das beaufsichtigt sie. Damit es aus den Verhältnissen rauskommt. Also aus den Verhältnissen, in denen es rauschgiftabhängig geworden ist. Und meine Mutter erzählt dem Kind dann

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