Jage zwei Tiger
Schweinfurt, Kai.«
Dann verließ er kopfschüttelnd das Zimmer.
Susanne hatte während Kais Krankenhausaufenthalt einen linksradikalen Schriftsteller im Bioladen kennengelernt und irgendwann vor dessen Haustür im Halteverbot geparkt. Detlev hatte einen Briefumschlag mit der aus dem unbezahlten Strafzettel hervorgegangenen Anzeige gefunden, beide hatten Konfliktscheu bewiesen, und Kai machte sich Sorgen, weil sein Vater nichts mehr aß. Er mischte ihm löffelweise Sahne in den Kaffee. Er nahm sich Geld aus Detlevs Portemonnaie, kaufte sich täglich zwei Döner und stellte der Geste wegen mehrere Liliensträuße in die Wohnung, obwohl keiner von beiden je was mit Blumen hatte anfangen können. Eine Woche lang verließ Detlev sein Zimmer kein einziges Mal. Sein Handy klingelte ununterbrochen, bis er es aus- und für die nächsten Tage nicht wieder einschaltete. Kai verbrachte seine Tage im Türkenspätkauf mit Internetcafé, wo er Bilder von Raubkatzen, Motorrädern oder ukrainischen amazonenhaften Mädchengangs, die ohne Kerle im Wald lebten und Kung-Fu übten, googelte. Hätte man ihn dieser Tage gefragt, woran er gerade dachte, hätte er »Freitod« oder »Kampfsport« geantwortet. Es war eiskalt und finster draußen, die Menschen beschimpften oder langweilten sich, außer Kai, der gerne nachts um drei stundenlang bekifft spazieren ging und verliebt war. Er saß bekifft auf Parkbänken oder der Fensterbank in seinem Zimmer rum, streichelte die Hunde des gutaussehenden Penners vor der Haustür, kiffte weiter und dachte an Samantha.
Ohne es zu bemerken, wurde er 13 Jahre alt. Und schlenderte auf einen als Gesamtschule bezeichneten Betonklotz zu, dessen Geruch nach Linoleum und ermüdetem Teenagerfleisch schon vernehmbar gewesen war, als er das Gebäude noch gar nicht gesehen hatte. An den Fenstern der unteren Stockwerke hingen ein paar Weihnachtssterne aus Transparentpapier, weil sich scheinbar niemand der jahreszeitengemäßen Umdekorierung gewidmet hatte. Ansonsten war alles grau, der Himmel hatte die Farbe einer Wurst. Die Glocke läutete, etwas zu schrill und etwas zu lang. Während die anderen durch drei Eingangsportale marschierten, blieb er stehen. Er konnte sein Verhalten schlechterdings nicht mehr von kollektiv abgenickten Signalen abhängig machen. Er ging seelenruhig leere Flure entlang, war beruhigt, keinen Außenseiter an einem der die Wände entlanglaufenden Garderobenhaken anzutreffen, und fragte im Sekretariat nach seiner neuen Klasse. Die beiden Sekretärinnen saßen an gegenüber voneinander aufgestellten Plastiktischen. Grauer Teppich, in randlosem Glas gerahmte Bilder von Sonnenuntergängen. Als sie ihn fragten, ob er wisse, dass er zu spät sei, antwortete er lächelnd, dass seine Freundin Supermodel sei und er sie noch zu einem Casting habe fahren müssen. Er hatte keine Ahnung, warum diese Antwort aus ihm rausgebrochen war, stolperte aber triumphal aus dem Zimmer raus und stellte sich vor, wie das aus dem Mund eines zu kleinen Dreizehnjährigen gewirkt haben musste, noch nicht aus dem Stimmbruch raus, mit entzündeten Nagelbetten und nebenbei arschsouverän.
Er ging zu den Toilettenräumen. Nicht weil er aufs Klo musste, sondern einfach so. Eine Art weiß geflieste Halle, saukalt. Die Spiegel über den nur teilweise funktionierenden Waschbecken hatten Risse, und auf dem, in dem er sich gelangweilt ansah, stand herzförmig eingekringelt »ficken fetzt«. Plötzlich kam ein Junge aus einer der Kabinen. Groß, breitschultrig und verschlafen. Er roch, als hätte er gerade sechs Kippen auf einmal geraucht, grüßte Kai mit einem Nicken und stellte sich phlegmatisch neben ihn an eins der Waschbecken. Als er gerade rausschlurfen wollte, rief Kai ihm hinterher, ob er wisse, dass da eine nackte Frau auf seinem Sweatshirt sei. Der Junge drehte sich ruckartig um, tatsächlich so, als würde ihm erst jetzt klar, was er heute Morgen angezogen hatte, und guckte an sich runter. Ja, da zogen sich tatsächlich die aus goldenem Sublimationsdruck hervorgehenden Umrisse einer nackten Frau über seinen Oberkörper, mit detaillierten Brustwarzen, in einer Pose, derentwegen er drei Tage lang vom Unterricht hätte suspendiert werden können. Der Junge rannte zurück zu den Spiegeln und sprang mit glattgezogenem Pulli mehrmals in die Höhe. »Scheiße«, sagte er dann irgendwann. Zwei Minuten später knieten die beiden über dem Pulli auf dem Boden und malten die nackte Frau mit schwarzen Eddings aus,
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