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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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gut lächeln kannst? Hab ich dir das irgendwann mal gesagt? Wahrscheinlich nicht. Von dem Tag an hab ich jede Minute an dich gedacht. Wenn du mir auf dem Schulhof entgegenkamst, musste ich dir ausweichen, weil ich Angst hatte, vor dir rot zu werden. Ich habe im Internet akribisch nach Beschreibungen deiner Scheißtotenkopfschuhe gesucht, bis ich sie irgendwann fand und mir zum Geburtstag wünschen konnte. Einmal beobachtete ich dich durchs Fenster des Chemieraums. Du hattest wahrscheinlich irgendeine Freistunde, hast auf dem Hof unter einem Baum gesessen und in einem Buch gelesen. Und in dieser Ruhe hielt ich dich plötzlich für Jesus oder so. Also nicht unbedingt Jesus, du weißt, ich neige zu Übertreibungen, aber für was Heiliges, da machte sich so eine Würde in deinem Gesicht breit, das mich sowieso komplett umhaute. Und dann hingst du plötzlich jeden Tag in der Raucherecke ab, mit diesen ganzen Existenzialistenheinijungs.«
    »– die ich nie wirklich gemocht habe«, warf Cecile ein, im Wissen, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch einiges andere hätte einwerfen müssen.
    Und Julia sagte: »Nein, das wurde mir dann später auch klar, aber ich schleimte mich bis zum Get-no bei einem von ihnen ein, diesem Justus aus der Zwölften, der irgendwie nie in den Stimmbruch gekommen war –«
    »– und bei den Feminists am Schlagzeug saß –«
    »Genau, und deswegen tauchte ich da irgendwann am See auf, nicht, weil ich den Leadsinger der bekloppten Feminists ficken wollte, sondern wegen dir, Cecile.«
    Cecile schluckte und wollte eigentlich lachen, weil sie das alles für einen Scherz hielt.
    »Selbstverständlich war ich irre beleidigt, weil du meine Schuhe nicht zur Kenntnis genommen hast, du hast bereits Hip-Hop-Wear mit übertriebenen Neonaufdrucken getragen, irre hässlich, zum Glück hast du die Phase schnell überwunden. Am Nachmittag schmiss ich die Schuhe jedenfalls in die Ecke, um sie nie wieder auch nur anzusehen, und schrieb mich im Norwegischkurs ein. Das war kein Zufall. Und ich hatte auch kein Interesse an Skandinavien als apokalypseüberdauernde Ausweichmöglichkeit für in zwanzig Jahren oder so. Zufälle sind generell einen feuchten Dreck wert, völlig irre, und das nennen diese bescheuerten Griechen dann ›Schicksal‹, schon Bolaño hat sich darüber beschwert. Egal. Ich war verliebt in dich. Die ganze Zeit. Keine Ahnung, was dich das angeht. Darauf will ich auch gar nicht hinaus. Das Schlimme war, dass du irgendwann diese Panikattacke hattest und ins Krankenhaus gebracht wurdest. Dort lagst du dann, unfassbar kläglich unter den stärksten Beruhigungshämmern, und heultest vor dich hin. Du hast meine Hand genommen und bist eingeschlafen. Ich saß acht verdammte Stunden an deinem Bett, Cecile. Eine Woche später hingen wir wieder am See rum, alle außer mir hielten deinen Krankenhausaufenthalt für eine Art Check wegen des Verdachts auf einen Herzfehler, glaub ich. Plötzlich hast du mich angeguckt, mein Gesicht in die Hände genommen, mich auf den Mund geküsst und ›ich liebe dich‹ gesagt. Du hast den Satz ausgesprochen, mit dem ich zwei Jahre lang eingeschlafen war, aber auf eine Art, die jede Form von, ich will nicht mal sagen Sexualität, sondern gleichwertiger Verknalltheit und entsprechender Intensität, vollständig ausschloss. Du hast diesen Satz, verdammt noch mal, freundschaftlich gesagt. Es war niederschmetternd. Am selben Tag war mein Vater gestorben. Deswegen konnte ich dir nicht erzählen, was passiert war. Deswegen bin ich gegangen, ohne dir oder irgendwem anders einen Grund dafür aufzutischen. Deswegen.«
     
    Cecile fühlte sich, als würden ihr Tränen das Gesicht runterlaufen, dem war aber nicht so, sie blieb regungslos liegen, um abzuwarten, ob etwas passierte, und es passierte nichts. Die beiden Mädchen waren nicht mal mehr dazu in der Lage, sich gegenseitig gute Nacht zu sagen. Cecile hielt sich inzwischen immerhin für ein bisschen liebenswerter als zwanzig Minuten zuvor, vermochte sich jedoch auf die Frage, ob sie auch nur im Entferntesten etwas über weibliche Komplizenschaft Hinausgehendes für Julia empfunden hatte damals, keine sofortige Antwort zu geben. Das konnte im Umkehrschluss nur nein bedeuten.
    Die Atemzüge wurden regelmäßiger, Julia lag mit dem Rücken zu Cecile an die äußerste Bettkante gedrängt und hatte sich ungefähr eine halbe Stunde lang keinen Millimeter bewegt, als Cecile plötzlich von einer Geilheit erfasst wurde, in der es

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