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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Rücken an.
    Morgens wachte ich jedenfalls auf und dachte plötzlich: Alter, wie sieht das hier aus überall, schlafende Leute, alles irre vermüllt, und was tu ich, ich fange an sauberzumachen, bis alle plötzlich schreien: Julia, könntest du bitte den Staubsauger ausmachen. Und ich so: Ja, aber irgendwann müssen wir schon mal anfangen, das stinkt hier nämlich auch. Und dann kam Jan, der hatte ja fantastisch geschlafen, und reichte mir einen Becher mit Wasser. Geil, Jan, super Idee, sagte ich, da wär ich voll nicht draufgekommen ohne dich. Und kipp das ganze Glas runter, woraufhin er sehr erschrocken und verstohlen das Zimmer verließ. Ich stand da, und nach zwei Minuten wurde ich von so einer sehr rabiaten Frage erfasst, warum zur Hölle ich jetzt nicht einfach doch den Staubsauger anmachen sollte, während die anderen so verwahrlost rumlagen mit ihren hochgerutschten T -Shirts. Und dann fing ich richtig ordentlich an zu putzen, das war, als würd jemand von außen in so ne Fingerpuppe reingreifen, ich verstand überhaupt nicht, warum ich die ganze Zeit putzte, ich tat es einfach, unter anderem eben auch die Klos, und mir war völlig egal, ob da gerade jemand draufsaß und pinkelte. Irgendwann packte mich Aram dann am Oberarm, drehte mich zu sich um, und er so: ›Setz dich mal hin, ich muss mit dir reden.‹
    ›Was isn los?‹
    ›Das war kein Wasser, das waren Pilze.‹
    Und ich so: ›Hä?‹
    Und er: ›Ja, der Jan, der hat dir Pilze gegeben, du hast das ganze Ding ausgetrunken und jetzt putzt du schon seit zwei Stunden wie ne Irre. Wir wollen jetzt frühstücken.‹
    Dann saßen wir nebeneinander am Frühstückstisch, er lächelte mich an, ich dachte: O mein Gott, wie herrlich ist das alles. Und da war ich plötzlich Knall auf Fall in Love, so richtig hardcore. Wie nie zuvor. Woran sich bisher auch nichts geändert hat, und ich bin sehr stolz darauf. Toll, oder?«
     
    Cecile nickte, Julia lächelte auf eine allumfassende Weise vor sich hin und stand auf, um die Tabletts zur Geschirrrückgabe zu bringen. Während Cecile feststellte, dass Julia versuchte so auszusehen wie Cherry Curry von den Runaways, also irgendein authentischer Seventiesstyle hatte sich da etabliert, sie trug abgeschnittene längsgestreifte Jeanshosen, den zu großen Billoparka und hatte gerade ihre Lippen rot angemalt, dachte sie an ihre gemeinsame Vergangenheit. Sie hatten dieselben Interessen und Gewichtsschwankungen gehabt und identische Narben an Armen und Schultern, weiße parallel zueinander verlaufende Linien, die inzwischen nur noch langweilige Geschichten über die Grenze zwischen posttraumatischer Belastung und Schizophrenie erzählten und nicht das eigentlich Erzählenswerte, nämlich die Magie der Selbstzerstörung: Die Schönheit und diese ganze Scheißhoffnung zweier frühpubertärer, an Grungemusik interessierter Ausgestoßener, in der Nachahmung der normalpsychologischen Grundlage für die Zerstörung des eigenen Körperschemas etwas zu finden, was sie ihre eigene Jugendbewegung hätten nennen können. Das Ganze hatte nichts mit Traumabewältigung zu tun gehabt, sondern war wie der Kauf eines zerschnittenen Netz- T -Shirts zustande gekommen – motiviert durch eine oberflächliche, aber sehr intensive Kraft. Cecile dachte daran, wie sie nachts in das Zimmer der jeweils anderen geschlichen waren oder, paillettenbesetzte Ganzkörperanzüge am Leib, in Schlussposen lateinamerikanischer Gesellschaftstanzchoreographien verharrt hatten. An diese ganzen schmerzverzerrten, westdeutschen Elitekindergesichter aus der Tanz- AG , allesamt getrieben von der grob strukturierten Panik, irgendwann anstatt als Katze oder Eisenbahn in einem Musical aufzutreten, tatsächlich Manager werden und Geld machen zu müssen, dieses Scheißgeld immer, dass all die Familien ins Verderben gestürzt hatte. Sie hatten sich über die Dauer von Träumen unterhalten, Wurmlöcher, die Existenz von Kugelblitzen. Sie hatten eine Achtzehnerpackung Neapolitanerwaffeln in sich reingestopft und waren danach unabhängig voneinander zum Kotzen ins Badezimmer gegangen, und am nächsten Tag dann in den Frühstückssaal des Internats, eine Anordnung von dunklem Holz, Aluminium, Granitstein, ineinanderlaufenden Grautönen, die durch die Verwendung kühler Materialien hatte bestechen sollen. Durch ihre Adern hatte Hass zu fließen begonnen, sie waren besoffen an der riesigen Statue einer mythologischen Gottheit vorbeigestolpert, Prunkstiege, Porträtbüsten der

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