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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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nicht unbedingt um Sex, sondern um Verwirrung, überbordende Zuneigung, Vertrautheit und die beglückende Empfindung von Unschuld ging, sie musste sich zusammenreißen, um nicht unkontrolliert loszuzittern, und ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können, nahm sie wahr, dass sie zu masturbieren begonnen hatte, eine Hand zwischen zusammengepressten Oberschenkeln, die andere am Betttuch festgekrallt. Und Julia schlief nicht, sondern legte sich dichter neben sie und führte Ceciles Hand an ihr Gesicht, völlig unspektakulär, sie knutschten verhalten rum, zogen sich aus, ohne sich dabei anzugucken, begannen ernsthaft aneinander rumzufummeln und glichen das, was sie taten, unabhängig voneinander und ohne es zu wollen, mit den standardisierten Vorgängen aus Lesbenpornos ab. Es war die typische Annäherung zweier Frauen ohne homosexuelle Tendenzen, weswegen sie am nächsten Tag auf die Frage »Und, hattet ihr Sex?« nur antworten würden: »Ähm, nicht so richtig.«.
    Es war schwer zu sagen, ob eine der Beteiligten dabei einen Orgasmus hatte, wohl eher nicht, trotzdem breitete sich ein tranceartiger Zustand von Vertrautheit aus. Irgendwann sahen sie sich versehentlich in die Augen, wussten, dass etwas Derartiges zwischen ihnen nie wieder passieren würde, und konnten eine halbe Stunde nicht aufhören zu lachen. Dann stellten sie sich nackt ans Fenster, teilten sich eine Zigarette und sahen sich zum ersten Mal seit Ewigkeiten in der Finsternis die Sterne an.
    Julia sagte: »Psychedelic!«
    Und Cecile sagte: »Ja. Ehrlich gesagt hab ich völlig vergessen, was da oben so abgeht.«
     
    Als Cecile am nächsten Morgen aufwachte, war ihre Bettdecke halb auf den Boden gerutscht, Julia stand bereits vorm Spiegel, mit der einen Hand schminkte sie sich, in der anderen hielt sie ihr Handy und erklärte einer Person, die scheinbar Ronny hieß, irgendetwas zur Reinigung von Daunenjacken.
    Es war 12:42 Uhr, 8 Grad draußen, in ihrem Traum hatte Cecile 132,50 Dollar für Meissener Porzellan ausgegeben und sich 10,5 Stunden lang nonstop Ray Charles reingeballert, in der EU würde es diesen Monat 347 Verkehrstote geben, vor ihr lagen 2 Kekse, es war das Jahr2012 , sie war 17 Jahre alt, Marie Antoinette wäre nächsten Monat 252 geworden, zusammen machte das2835 , und Cecile ging raus, durch die Stadt, eine Art Dschungel aus Metall, stand sediert an Straßenecken rum und sah ein paar Jungs dabei zu, wie sie irre schlecht breakdancten. Dann ging sie zurück nach Hause, die Glühbirne im Flur war kaputt, und stolperte über einen zwei Meter langen, horizontal in zwei Hälften geteilten Kaktus.

 
     
    14
     
    Auf Julias mehrere Tage später gestellte Frage, ob Cecile Geld habe, antwortete sie nicht, sondern hob die letzten tausend Euro von ihrem Konto ab und tat sie in die kollektiv verwaltete Haushaltskasse. Ohne dass sich auch nur ein einziger der Involvierten jemals mit dem Konzept einer Kommune auseinandergesetzt hatte, funktionierte das Modell unter ihnen hervorragend. Das Geld wurde geteilt, die Klamotten, das schlecht zubereitete Essen, einfach, weil es für alle Beteiligten praktisch war und keiner von ihnen auf die Idee gekommen wäre zu lügen. Es sollte damit kein Statement gesetzt werden, es hatte sich einfach so ergeben. Es lebten zwischen neun und elf Leuten hier, von einigen kannte Cecile nicht mal die Namen. Wenn jemand eine Lederjacke anhatte, war das nicht mehr das Hoheitszeichen jugendlicher Rebellion. Es hatte nichts mehr mit Marlon Brando zu tun, der präzise eine Haltung ausformuliert, indem er mit seiner Motorradgang mehrere Kleinstädte zertrümmert. Was sie trugen, spielte mit Bezugnahmen. Adrette Seitenscheitel, Bomberjacken, Rock ’n’ Roll zitieren, die chauvinistischen Überbleibsel aus der Hippiezeit verachten. Die Mod-Haltung. Der Skinheadstammbaum. Der Punk. Das mit Sektfrühstück zu assoziierende Yuppietum. Die Statements gingen ineinander über und wurden zu einem Querschnitt aller je dagewesenen Jugendbewegungen.
     
    Cecile schlief viel. Wenn Julia nicht da war, und tagsüber war sie das so gut wie nie, traute sie sich selten aus ihrem Zimmer raus. Sie verbrachte mehrere Tage am Stück im Bett. Von dem Elefanten erzählte sie niemandem. Irgendwann, sie wusste selbst nicht, wie viel Zeit seit ihrem Einzug vergangen war, stand sie apathisch vor dem Stromkasten im Flur rum und spielte zum ersten Mal mit dem Gedanken, in dieser Ansammlung von an Peace und finanzieller Enthaltsamkeit interessierten

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