Jage zwei Tiger
Gleichaltrigen den Rest ihres Lebens zu verbringen, sich also endgültig für Drogen und den gradlinigen Verlauf einer halbwegs berechenbaren Existenz zu entscheiden. Zwanzig Sekunden später hörte sie jedoch jemanden aus dem Nachbarzimmer mehrmals hintereinander ›Spermafotze‹ kreischen und schlug sich die Idee schnell wieder aus dem Kopf. Als sie das Wohnzimmer betrat, um zu sehen, was passiert war, hatten sich bereits Aram und zwei andere um Mike, den Halbisländer, versammelt, der nicht nur Spermafotze geschrien, sondern das Wort auch mit Lippenstift über die komplette Wand geschmiert hatte. Keiner konnte sich erklären, warum, er selbst in seinem kümmerlich erschöpften Zustand am allerwenigsten. Er ging raus, joggte zwei Runden um den Block und hackte danach im Garten Holz. Eigentlich unnötig, das Haus war weit davon entfernt, einen Kamin zu beinhalten. Als er zurückkam und nur noch Cecile da war, sie saß vorm Fernseher, erzählte er ihr völlig entfesselt, dass er seinen Vater vermisse, der an seinem zwölften Geburtstag mit einer anderen Frau nach Australien abgehauen war und seitdem auf keinen seiner Briefe je reagiert hatte. Er erzählte, wie sein älterer Bruder ihn mal mit einer Axt verfolgt hatte und er sich aus dem Fenster seines Kinderzimmers hatte abseilen und in Kellern übernachten müssen. Und dass er, weil alle immer gedacht hätten, dass er sowieso log, wenn er von zu Hause erzählte, sich ständig als Chefarztsohn ausgegeben hatte. Cecile verstand den Zusammenhang nicht ganz, konnte das aber nachvollziehen. Am meisten rührte sie seine Geschichte von der Kiwi. Er erzählte, wie er einmal, mit acht oder so, bei einem Freund zum Mittagessen eingeladen war und als Nachtisch eine Kiwi serviert wurde, so was hatte er noch nie zuvor gesehen. Neben der aufgeschnittenen Kiwi lag ein Löffel, weshalb er kombinierte, dass er das Innere der Kiwi auslöffeln musste. Das Weiße in der Mitte ließ er übrig, und als ihm die Mutter höflich besorgt erklärte, dass er das Weiße ruhig mitessen könne, sagte er, dass er das wisse, »aber das Beste lass ich mir immer für zum Schluss«.
Inzwischen war Mike vierundzwanzig und bis zum Hals zutätowiert, sein ganzer Körper war von klassischen Motiven überzogen, die keine Abziehbilder waren, und logischerweise arbeitete er als Tätowierer. Cecile fing grundlos eine Affäre mit ihm an. Es war unkompliziert, fünf Minuten nachdem sie ihm in Julias Zimmer eine Platte vorgespielt hatte, war er über sie hergefallen, so wie er über jedes andere Mädchen hergefallen wäre. Er fickte genauso, wie man sich das vorstellte, es war irgendwie reibungslos, und wenn währenddessen der Lattenrost durchgeboren wäre, hatte er angefangen zu lachen, wäre in den Keller gegangen, um eine Bohrmaschine zu holen, und hätte es in Windeseile so fachmännisch stabilisiert, dass man ein Auto darauf hätte abstellen können. Und weil er gerade schon dabei wäre, hätte er dann auch gleich noch die Gardinenstangen vernünftig angebracht und eine Lampe repariert. Manchmal schickte er ihr Handyfotos davon, wie er halbnackt vor einer Sonnenbank posierte oder auf einer Harley-Davidson saß, die jemand in der Innenstadt geparkt hatte. Er meinte das todernst.
Er mochte sie, sie mochte ihn irgendwie auch. Sie aß weniger als sonst. Sie aß fast nichts mehr. Und jedes Mal wenn sie mit ihm geschlafen hatte, blieb stundenlang eine Art niederschmetterndes Misstrauen gegenüber ihrem eigenen Körper zurück. Sie sah sich im Spiegel und wusste, dass sie nicht mehr nur mager, sondern ekelhaft war. Meistens trug sie mehrere Sweatshirts übereinander, um nicht als anorektisch neutralisiert zu werden. Sie hatte ganz klar vor Augen, dass sie erstens scheiße aussah und ihr zweitens Haare an Stellen wuchsen, an denen sie keine wollte. Es ging um eine Art letzte Kontrollinstanz. Um eine beruhigende, tagesstrukturierende Gewohnheit, sich aufs Gramm genau bewusst zu sein, was sie sich an Nahrung zugeführt hatte, und die Fähigkeit, diese Menge Woche für Woche weiter zu reduzieren.
Am Abend des ersten Wintertages, die Bewohner des Hauses nahmen gerade auf den im Erdgeschoss verteilten improvisierten Sitzgelegenheiten irgendeine Matsche ein, unterhielten sie sich über nichts anderes als die Scheißkälte, und irgendwann schlug Julia vor, nach Italien auszuwandern.
Alle nahmen diesen Vorschlag sehr ernst und dachten schweigend nach, ob sich ein derartiger Cut in ihrem Leben gerade einrichten
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