Jage zwei Tiger
Ekel lief sie über das an eine Schnellstraße angrenzende Grundstück bis zur Haustür. Auf dem Nachbargrundstück spielten gerade die drei polnischen Geschwister, die sich um den komplett dementen achtzigjährigen Hausherrn kümmerten, Federball und winkten ihr lachend zu. Sie winkte zurück und dachte daran, wie der Typ, nachdem er genug Geld verdient hatte, um sich für fünfzehn Millionen ein derartiges Domizil errichten zu lassen, verrückt geworden war und sich fortan nur noch dafür interessierte, vom Bahnhofscafé aus die den Zügen entsteigenden Menschen zu zählen. Sie dachte an den kleinen toten Vogel und an den Artikel, den sie gestern auf der Zugfahrt hierher in der Zeitung gelesen hatte, über ein achtjähriges Mädchen, das im Stadtpark einer westdeutschen Stadt von einem Mitglied des in der Nähe gastierenden Zirkus tot aufgefunden worden war. Jemand hatte es vergewaltigt und dann so lange geschlagen, bis es nicht mehr atmete. In dem Artikel stand, dass sie schon mehrere Tage in dem Park gelebt und dort auch geschlafen hatte. Ihre Mutter war weggegangen und hatte sie und ihre drei sehr viel jüngeren Geschwister in einer ungeheizten Bruchbude zurückgelassen, ohne Essen, ohne Geld. Die Mutter war einfach abgehauen, woraufhin die Älteste, das wurde ihr zumindest unterstellt, anstatt zur Polizei oder zu irgendwem anders, einfach nach draußen gegangen war, um sie zu suchen. Ihre beiden kleinen Brüder, zwei und drei, waren in der Wohnung verhungert, ihre Schwester, die einzige Überlebende, fünf Jahre alt, befand sich jetzt in psychologischer Betreuung, was auch immer das bedeuten mochte. Cecile heulte, als sie daran dachte. Und sie heulte noch mehr, als sie an die beiden sehr alten Leute dachte, die ihr vor einigen Jahren in der S- Bahn gegenübergesessen und sich die ganze Zeit gefragt hatten, ob sie in die richtige Richtung fuhren. Sie fuhren in die falsche Richtung, das wusste Cecile, sagte es aber nicht, was ihr seitdem aus unerklärlichen Gründen extremen Kummer bereitete. Sie dachte an ihre Eltern und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg, sie dachte an Julia und an die anderen und daran, wie sie jeden verdammten Tag aufs Gramm genau Apfelstücke abwog, bevor sie sie aß. Wie sie Clementinenspalten vierzigmal kaute, bevor sie sie runterschluckte. Wie sich der über ihren kompletten Körper ziehende Flaum mehr und mehr verdichtete, wie ihr Herz immer unregelmäßiger schlug, wie sie ab und zu im Badezimmer ohnmächtig wurde, wie ihre Haare ausfielen, ihre Fingernägel einrissen, wie sie permanent log, sowohl die Ausfallerscheinungen als auch das fließende Blau unter ihrer Haut hätten mit einer Schilddrüsenstörung zu tun, sie dachte daran, wie sie völlig skrupellos Menschen zurückließ, die sie trotz ihrer soziopathischen Verhaltensmuster nie in Frage gestellt, sondern sich um sie gekümmert hatten, und plötzlich wurde ihr klar, was das alles sollte, um was es ihr bei alldem ihr Leben lang gegangen war: Sie wollte verschwinden.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, klingelte sie zweimal an der Haustür. Irina machte auf und guckte sie sehr verschlafen an, in einem Cashmerejogginganzug, auf dem »running sucks« stand. Cecile sagte, sie hätte sich ausgesperrt, Irina zuckte mit den Schultern. Als sie zurück ins Schlafzimmer ging, drehte sie sich noch mal um. Cecile blieb in ihre Decke gewickelt im Eingang stehen.
»Weißt du, worüber ich gerade nachgedacht habe?«, fragte Irina gähnend, und Cecile schüttelte den Kopf.
»Dass sich bei dir die Leberflecken alle an einer Stelle sammeln.«
Cecile guckte an sich runter und entdeckte einen fünf mal fünf Zentimeter großen Leberfleck auf der Rückseite ihres Oberschenkels, dessen Existenz sie die letzten drei Jahre komplett verdrängt hatte.
Am Nachmittag fuhr sie mit der S- Bahn in die Stadt. Sie stieg am Marienplatz aus und ging in den erstbesten Supermarkt. Als sie jünger war, hatte sie teilweise Stunden in Supermärkten verbracht, um sich die Rückseiten von Lebensmitteln durchzulesen, anstatt sie zu essen. Wenn das Verlangen zu groß war, hatte sie manchmal doch etwas gekauft, es am Abend mit den einfallslosen Worten, sie wäre gegen die jeweilige Süßigkeit allergisch, einer Mitschülerin geschenkt und ihr dabei zugesehen, wie sie es aufaß.
An diesem Nachmittag stand sie an der Kasse und bezahlte vier Tafeln weiße Schokolade mit einem Hunderter. Sie vergaß beinahe ihr Wechselgeld und fing, noch bevor sie den
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