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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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war bewacht.
    Horst Papenbrock hatte die Machtergreifung nicht am Markt angefangen. Als er am Montag nach der Reichstagswahl von seiner Kommunistenschnüffelei aus Gneez zurückkam, hatte er keinen gefangen, war ihm der Tag nicht voll genug, und der Fahnenmast der jerichower Schule fiel ihm ins Auge. Der Mast kam ihm nackt vor. Am späten Nachmittag noch trat die S. A. auf dem Markt an, einige ohne großes Verlangen nach aufrechtem und wortlosem Dastehen, und marschierte rechtsum ab in die Schulstraße, ohne Lied und etwas wacklig, wie ein Panzerwagen mit betrunkenem Führer zwischen den niedrigen Gebäuden und den Hunden hindurch und hißte die Fahne der nationalsozialistischen Bewegung auf dem Schulhof und ließ einen Doppelposten zurück aus den zwei Mann, die noch nicht nur Geistesgegenwart sondern auch eine etwas vollständige Uniform am Leibe hatten. Der Bürgermeister schickte die Stadtpolizei erst in der Dämmerung. Die Stadtpolizei war Ete Helms, auch nicht viel über zwanzig und sehr auf seinen Feierabend bedacht, so daß er sich gemütlich wegschicken ließ und die Uniformjacke erst zuknöpfte, als er auf Papenbrocks Diele stand und nach dem jungen Herrn fragte. Horst hatte die Koemflasche neben dem Schinkenteller gehabt und machte dem Jüngeren ein paar Minuten lang den Vorgesetzten, bis er erfuhr, daß Dr. Erdamer gesagt hatte: Dummes Zeug (im Selbstgespräch, beim Zuziehen der Tür). Fünf Minuten später deckte Horst den Doppelposten mit gezogener Pistole, und Ete Helms stand bis kurz vor Mitternacht am Schulhofzaun, stramm jetzt und die Hände am Koppel, neidisch auf den Kaffeedienst der Nazis, angetan von den schneidigen Wachablösungen alle Stunde, nicht ganz behaglich inmitten der Zuschauer, die so viel nächtliche Abwechslung seit Jahren nicht genossen hatten und sich einen Spaß daraus machten, jeweils um den Schritt vorzutreten, um den er sie zurückwies. Gegen Mitternacht war Dr. Erdamer vernünftig genug, den Bitten von Geesche Helms nachzugeben und ihr den Mann ins Bett zu schicken, so daß der S. A. mit den Gaffern auch die Lust an der Grüßerei und dem Marschschritt ausging und sie den Schulhof räumten, aber es war dennoch Horst Papenbrocks Sieg gewesen.
    Denn am nächsten Morgen stand die Ehrenwache wieder auf dem Schulhof, als die Kinder zum Unterricht kamen, wenn auch nicht in der Gesellschaft von Polizei. Jenes Kommando hatte Horst an Walter Griem abgegeben; er selbst hatte auf dem Dach des Rathauses die Nazifahne hochziehen lassen und zwei Uniformierte links und rechts des Beischlages aufgestellt. Dr. Erdamer konnte sie gut sehen von seinem Fenster über der Treppe, und auch, daß der Stahlhelm inzwischen sich in diesen Postendienst gedrängt hatte. Auf dem Tisch hatte er den Lübecker General-Anzeiger vom Montag. Die Zeitung trug im Kopf die Versicherung, daß sie jeden Morgen außer montags in den Handel kam. An diesem Montag war sie erschienen, zu Ehren der Reichstagswahl, und wegen der Art des Ergebnisses. Im Wahlkreis Mecklenburg hatten die Sozialdemokraten ein Mandat verloren, blieben 120. Die Kommunisten waren von 100 auf 81 Plätze runter. Mit 195 Nazis im Reichstag aber war die mecklenburgische Seele nicht zufrieden gewesen, und sie hatte sie versehen mit zusätzlichen 93. Den Lübecker General-Anzeiger dieses Tages hatte er in der Hand. Er hatte die Schlagzeile so oft gelesen, die fette Fraktur setzte sich im Lesen nicht mehr in ihre eigene sondern fremde Bedeutungen um. »Lübeck ist nicht mehr rot!« jubelte das Blatt. Aber im Senat der Freien und Hansestadt Lübeck hatten Kommunisten nicht gesessen; gemeint waren die Sozialdemokraten. Gemeint war er. Die Bezeichnung rot hatte er in achteinhalb Jahren Verwaltungsdienst gewohnheitsmäßig von sich weggedacht, zu den Kommunisten hin, die die Republik hatten zerschlagen wollen, nicht ihren Nutzen mehren. Er hatte das in kleinen mecklenburgischen Städten versucht, und nicht die Bürgerschaft und nicht seine Partei hatte ihn zum Umzug gedrängt, sondern günstigere Angebote. Er hatte nicht nur Jerichows Rathaus aufgeräumt, auch die Straße zur See, die Feuerwehrhalle im Gaswerk, das Arbeitsamt, auch die verunkrauteten Parzellen im Nordwesten der Stadt, aus denen er die Anfänge eines Villenviertels gemacht hatte. Er hatte weder seinen juristischen Titel von der Universität Leipzig noch seine Karriere noch sein Parteibuch benötigt, sich Ansehen zu verschaffen; auch in Jerichow war er mit dem Adel wie dem Bürgertum von

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