Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Person mitriefe. - Gesine: sagte er harmlos, und hätte es am liebsten verschluckt. - Ja: sagte Lisbeth, nachgiebig, freundlich, so daß er es als ein Geschenk verstehen mußte. Er saß an ihrem Fußende, auf dem Bettrand. Sie hatte gar nicht zur Wiege hinübergesehen, sie stieß ihn leicht gegen die Hüfte mit einem Fuß unter der Decke und sagte: Gesine Henriette.
Du bist das, Gesine?
Das bin ich, Gesine.
1904 in Malchow am See?
Ich war fünfzehn. Er war sechzehn. Ich war die Enkelin von Redebrecht.
Wie hast du ausgesehen, Gesine.
Ich trug die Zöpfe um den Kopf. Ich war blond. Er wünschte sich immer, daß ich die Zöpfe aufmachte. Das erste Mal ging ich mitten in der Nacht oben ans Fenster, die Haare offen. Es war nichts ausgemacht und nichts angesagt. Da stand er.
Gesine, bist du auch tot?
Das muß nicht sein, Gesine. Ich wär ja erst neunundsiebzig. Die Olsch, die dir 1952 auf dem Bahnhof von Wendisch Burg im Weg stand, ich könnte sie gewesen sein. Die Olsch mit dem Stock auf der Bank vor dem Altersheim in Hamburg, vielleicht war ich sie. Das kannst du doch denken, Gesine.
Kann ich, Gesine.
In der Monterey Avenue, Nummer 2015, in der südlichen Bronx, wohnt Peter Harper, Hausmeister. Er hat sich einen Abfall-Unterstand über seine Hintertür gebaut, ein kräftig verstärktes Metalldach. Nun ist er zufrieden. Nun kann ihn der Abfall nicht mehr treffen, den die Bewohner der oberen Stockwerke auf den Hof schmeißen. (Die New York Times ist entweder nicht sachkundig genug oder zu diskret, denn sie unterschlägt den Namen für den herabsausenden Müll, sanfte Papierschnitzel oder harte Saftflaschen: Luftpost.)
25. Oktober, 1967 Mittwoch
Die Sowjets sind nun doch entschlossen, sich zu ärgern über die Flucht ihres Geheimagenten Runge in den Westen; sie geben schon zu, daß es ihn gibt; und sie nennen ihn einen skrupellosen Verbrecher. Und sie machen einen amerikanischen Agenten öffentlich, der ihnen aus New Delhi zugelaufen ist. John Smith heißt er.
– Gesine, ich habe Sorgen mit einem Kind.
– Mit einem Kind, das ich kenne?
– Nein. Ein Kind aus meiner Klasse.
– Sitzt es neben dir?
– Es ist neben mich gesetzt.
– Ein Kind aus einer anderen Schule?
– Aus Harlem.
– Das ist es?
– Daß sie gefärbt ist.
– Pass auf deine Sprache auf, Marie.
– O. K. O. K.!
– Es heißt: Eine Negerin. Ein schwarzes Mädchen.
– Ja, Gesine. Jaja.
Einige Kinder von den Botschaften Polens, Bulgariens und der Č. S. S. R. sind in der Lincoln-Oberschule von Washington (D. C.) von amerikanischen Schülern geschlagen und bedroht worden. Ein Junge mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Das Außenministerium teilt mit: Dies sei sehr schlecht für unser Ansehen in Übersee.
– Sie ist die einzige Schwarze.
– Gib ihr ihren Namen.
– Francine ist die einzige Schwarze in unserer Klasse, und von allen einundzwanzig Mädchen mußte Schwester Magdalena mich aussuchen.
– Du genierst dich.
– Nein. Es ist, es hat keinen Zweck. Sie ist eine Ausnahme.
– Eine Ausnahme von den Negern?
– Eine Ausnahme vom Leben in diesem Land. Sie ist eine Alibinegerin.
– Schülerin Cresspahl, erläutere diesen Begriff.
– Ein Alibineger ist einer, der umsonst in unsere Schule gelassen wird.
– Damit das Institut nicht die Bundeszuschüsse verliert.
– Damit das Gesetz belogen wird.
– Willst du Plätze für alle Neger an euren Schulen, wegen der Gerechtigkeit?
– Es ist ungerecht, daß ich bis dahin für alle einundzwanzig von uns die Arbeit machen soll mit der Alibinegerin.
Der Dramatiker LeRoi Jones, in New Jersey unter Anklage wegen zweier Revolver, die während der Juli-Unruhen in seinem Auto gefunden wurden, beschimpfte den weißen Richter und die weißen Jury-Kandidaten als seine Unterdrücker. Ihm wurden Handschellen angelegt.
– Es ist dir zuviel, Marie.
– Es ist viel. Francine ist im Rechnen zurück, sie schreibt falsches Englisch, sie weiß nicht wo Montreal liegt.
– Sie ist auch nie über ein Wochenende nach Montreal mitgenommen worden, wie ein Kind, mit dem ich persönlich bekannt bin.
– Francine kann nicht einmal lernen. Sie behält wenig, und das bringt sie durcheinander.
– Womöglich hat sie zu Hause nicht Platz zum Lernen, nicht Ruhe, nicht Zeit.
– Nicht meine Schuld.
– Welcome a Stranger.
– Das tu ich, seit Labor Day. Die siebente Woche schon seh ich ihr die Hefte durch, bespreche Tests mit ihr in der Pause, höre ihr ab, erklär
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