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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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vornherein bekannt und einig gewesen nicht nur in den Formen des Umgangs, sondern auch in dem Anstand, den sie hätten enthalten sollen. Er verstand nun den Adel der Gegend nicht. Er verstand ihn, er begriff die wirtschaftlichen Interessen der Leute, die das politische Unwetter in der Sicherheit ihrer Güter abwarten wollten, aber es genierte ihn, daß sie so ruhig saßen und die Schlägerkommandos der Nazis nicht von ihren Knechten aus den Siedlungen der Tagelöhner prügeln ließen und weder selbst noch durch die Kirche hatten Bescheid sagen lassen, daß sie einen Erfolg für die nationalsozialistischen Plebejer nicht wünschten. Die Kirche genierte ihn. Ihn genierte, daß Papenbrock seinen Sohn nicht in den Nacken schlug. Mit Papenbrock war er nicht nur beim Wein einig gewesen, auch über die Beschlüsse, die bei den Versammlungen der Stadtverordneten herauskommen sollten. Papenbrock war zu fein gewesen, sich aufstellen zu lassen, Papenbrock hatte dennoch gern seinen Finger gehabt in jeder Suppe, die im Rathaus gekocht worden war. Jetzt ließ er seinen Sprößling eine rote Fahne mit einem Hakenkreuz auf das Rathaus bringen und bewachen von einem Bewaffneten, der den Lauf schon auf Ete Helms richtete, als er am Rand des Dachfensters erschien, und es war nicht Schrot, das er abschießen würde. Seine Kollegen im Senat der Freien und Hansestadt Lübeck hatten es ihm vorgemacht: die von der S. P. D. waren zurückgetreten, obwohl die Reichstagswahl gar nichts mit der Zusammensetzung der Landtage zu tun hatte. Es war nicht rechtlich. Es war gegen das Gesetz. Und er war immer in kleinen Städten gewesen. Ins schweriner Ministerium würde er nicht mehr kommen. In Jerichow verlor seine Tochter eine Freundin, diese Lisbeth Papenbrock mit ihrem Cresspahl in England. Er verlor die Verantwortung für die Messerstechereien auf den Dörfern, die nächtlichen Schußwechsel zwischen Reichsbanner und den Hilfspolizisten der S. A. Er verlor die wöchentliche Rangelei mit den Nazis im Stadtrat über den Juden Semig. Er verlor die Leute, die in der Sonntagnacht bis elf Uhr an den Lautsprechern von Johs. Schmidt auf die Wahlergebnisse gewartet hatten, fröhlich in der warmen Luft, wie betrunken von jeder neuen Zahl. Die taten ja geradezu, als würde nicht nur die Polizei abgeschafft, sondern auch das Finanzamt. Er hatte im schweriner Büro der Partei niemand ans Telefon bekommen können, nicht einmal in Gneez. Als er am Nachmittag die Versammlung der Stadtverordneten eröffnete, war er noch nicht entschlossen. Dann traten die Sozialdemokraten von Jerichow zurück: Upahl, Stoffregen, Piep, Piepenbrink. Auch Stoffregen. Kleineschulte mit seiner Hugenbergpartei blieb sitzen; Kleineschulte würde am Abend zu Besuch und Erklärungen ankommen. Es war nicht ausgemacht, daß er Kleineschulte hinauswerfen würde. Er war jetzt 43 Jahre alt. Als er aufstand, fanden seine Schultern ganz leicht in die Haltung des Offiziers. Er hielt das Kinn zu hoch, als daß er einen der Sitzenden ansehen konnte. Er spürte die kurzen, dann gesenkten Blicke auf seinen mageren, rundum geschorenen Kopf, die vor Anstrengung fast blinden Augen, das verächtliche Zucken in einem Mundwinkel, und er war sicher, daß sie ihm in der Tür nachsahen nicht ohne Besorgnis. In der Tür zur Rathaustreppe sah er Cresspahl auf dem Markt ankommen, diesen Schwiegersohn von Papenbrock, der offenbar sein Kind eintragen lassen wollte, auf dessen Kind er noch am Sonnabend mit ihm getrunken hatte. Er entschloß sich, ihm nicht zu sagen, daß der Standesbeamte bei der Ratsversammlung als Protokollführer unabkömmlich war. Als er anfing zu gehen, ein ziemlich aufrechter, hochmütiger Herr in Reitstiefeln unter dem langen Mantel, führte kein Entschluß mehr ihm die Schritte. Er kam zwischen den beiden Posten an, ohne sie zu sehen (sonst hätte er sie mit Namen und Vornamen anreden können), er war zwischen ihnen hindurch, ehe die beiden Kerle Horst Papenbrocks nun doch unsicheres Kommando in ein schiefes Präsentiermanöver umgesetzt hatten, er war an Cresspahl vorbei und ohne ihn bemerkt zu haben, und Cresspahl stand da angehalten in drei Bewegungen: dem Ansatz zum Entbieten der Tageszeit, dem empörten Ausfahren gegen Horst, dem ersten halben Schritt hinter Erdamer her, mitten auf dem Marktplatz, gut beobachtet von den Umstehenden, ratlos, mit offenem Mund, mit einer tauben und zugleich horchenden Miene, wie ein Hase, der ertappt ist und auf den Schlag wartet, der keinen Atemzug von

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