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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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seinem Genick entfernt ist.
    Holl din Muul, Gesine. Holl din Muul.

27. Oktober, 1967 Freitag
    ist der Tag, an dem die New York Times meldet: Der Mensch ist geneigt, Dinge zu vergessen, die mit unangenehmen Erfahrungen zu tun haben.
    Der New York Times ist es bewiesen durch einen Versuch, den zwei Forscher in Princeton mit 16 jüngeren Semestern angestellt haben. Die Versuchspersonen meldeten sich freiwillig und ahnten nicht den Zweck des Experiments. Zunächst wurde ihnen eine Sprache aus zehn sinnlosen dreibuchstabigen Silben beigebracht, dann englische Entsprechungen, zum Beispiel MEMORY (Gedächtnis, Erinnerungskraft, Merkfähigkeit) für DAX , etc. Dann bekamen sie eine zweite Liste mit zehn anderen englischen Worten, die unterschwellig an die der ersten Liste anknüpften. Wie das Vokabularium der ersten Liste, wurde auch der Inhalt der zweiten auf eine Leinwand projiziert, aber einige ihrer Worte traten gleichzeitig auf mit einem Stromstoß in die Hände der Freiwilligen. Der Strom stellte über die Assoziationen eine Brücke zu den fiktiven Entsprechungen her und verbrannte den Nexus. Die schmerzfreien Korrespondenzen blieben im Gedächtnis der Studenten erhalten. Das ist der Beweis. Wer es nicht glaubt, zahlt 10 Cent. 10 Cent ist der Preis der New York Times. Sitzt neben uns auf dem Besucherstuhl, vor Eifer auf die Kante vorgerückt, mit verrutschtem Hut, und redet und redet und hält uns von der Arbeit ab.
    Ein Kundendienst des Hauses, Gesine.
    Nachrichten aus der Wissenschaft.
    Ein Beitrag zu deinem Problem, Gesine. Weil es dich kümmert, wie das ist mit dem Vergessen.
    Mit dem Behalten.
    Jahrelang haben wir so dahingelebt und es nur geglaubt.
    Endlich treten zwei Mann auf in Princeton und sagen uns Bescheid.
    Daß sie es bewiesen haben.
    Hätten.
    Haben, Gesine.
    Was versetzte sie ausgerechnet hier in Beweisnot?
    Der Volksmund.
    »Was mir gleichgültig ist, behalte ich.«
    Nein. »Was weh tut, wird vergessen.«
    Warum ist dieser Aberglaube eine Untersuchung wert?
    Damit wir ihn womöglich benutzen können.
    Welches Vergessen ist denn gemeint, das à la Wien, à la London, à la Chicago?
    Die schlichte Auslöschung, Gesine. Die einfache Zerstörung des Gewußten.
    Zu benutzen für innenpolitische Zwecke.
    Kein sittlich denkender Mensch wird …
    Aber die Wissenschaft durchaus.
    Vorläufig hat sie nur einen Lernprozeß beobachtet.
    An nicht mehr als 16 Personen.
    Die freiwillig sind, also unverdächtig.
    Also nicht einmal ausgesucht nach ihrer Fähigkeit, zu behalten, oder zu vergessen.
    Die ahnungslos sind, also beweiskräftig.
    Die also nicht einmal ein Motiv für Behalten und Vergessen haben.
    Doch. Ein paar Dollar.
    Denen der Lernprozeß selbst nur mäßigen Genuß oder Gewinn verspricht.
    Die wenigstens alle gleichaltrig sind.
    Eine Oma Prüss hätte sich nicht nur den elektrischen Schlag gemerkt, sie hätte auch in ihrem Gedächtnis nach den Umständen gegraben. Oma Prüss ist rachsüchtig.
    Das Ergebnis des Lernprozesses wird einer echten Alternative unterworfen.
    Bei Schlägen Vergessen, bei Wohlverhalten Behalten. Eine Scheißwahl.
    Aber einleuchtend.
    So einleuchtend wie die Kuh, die sich Schlag nach Schlag vom geladenen Koppeldraht holt. Sie kann es sich einfach nicht merken.
    Bei deinen Kühen, Gesine, war der Schlag schon das Lernziel.
    Beim Menschen soll das Vergessen übertragen werden, was?
    Indirekt, verstehst du?
    Mit nur zehn Wortketten.
    Immerhin.
    Die alle an der selben Stelle angefeilt sind.
    Der Bruch ist echt, Gesine. Der Bruch bleibt echt.
    Die willkürliche Gruppierung von 30 Buchstaben zu Dreierreihen nennt die New York Times »eine Sprache«.
    Wie die Wissenschaft, Gesine. Streng nach der Wissenschaft.
    Eine Sprache, deren Worte keine Beziehungen unterhalten.
    Die Wissenschaft wird ihre wohlerwogenen Gründe haben.
    Zum Lernen von Sprachen gehört die Anwendung des Gelernten.
    Dann machte das Vergessen zu viel Mühe.
    Dann wär es was wert.
    Um Semantik ist es doch gar nicht gegangen, Gesine.
    Die Reifezeit im Gedächtnis ist unterschlagen.
    Ein Vergessen ist nachgewiesen.
    Da war doch nicht einmal ein Wunsch, unbrauchbares Vokabular zu behalten.
    Da wurde jedem die demokratisch gleiche Wahl gelassen zwischen der Möglichkeit, etwas zu behalten, und der, etwas zu vergessen.
    Blinde Reaktion.
    Automatische Reaktion.
    Die Alternative wurde an einem Ende mit Schmerz belastet.
    Die belastete Möglichkeit wurde zerstört.
    Fertig ist die Laube.
    Keine Laube, Gesine. Ein

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