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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Funktionsmodell feinster behavioristischer Provenienz.
    Bioveristischer?
    Sei nicht so frech, Gesine. Die New York Times spricht nicht mit undeutlicher Stimme.
    Die Wissenschaft wird schon wissen.
    Ganz recht, Gesine. Wo wären wir ohne die Wissenschaft. Wo wären die U  S. A. ohne ihre Wissenschaftler.
    Die mit einem Experiment ein Experiment beweisen.
    Und daß, negativ oder positiv, Schmerz mit dem Gedächtnis verbunden ist.
    Irgendwie.
    »Unzweideutig«, Gesine. Die Herren sagen es selbst.
    Die Tante Times sichert sich mit Zitaten ab.
    Zitate beweisen die Zuverlässigkeit im Weitersagen.
    Es sind doch Worte verbrannt worden?
    Nur Worte, Gesine. Es ist Niemandem ein Schade getan.
    Und wenn eine andere Zeitung das Wort »Worte« mit den Buchstaben S, a, c, h, e, n schriebe?
    Es wäre eine unverzeihliche Irreführung der Leser, eine Sünde gegen den Geist des Journalismus, auf alle Zeiten unentschuldbar.
    Und warum tut es die New York Times?
    Damit ich euch besser fassen kann.
    Und warum hast du so große Zähne?

28. Oktober, 1967 Sonnabend
    Über Hanoi wurde zum Beispiel John Sidney McCain III abgeschossen. Im Juli hatte er den Brand des Flugzeugträgers »Forrestal« miterlebt. Nachdem er gesehen hatte (seine Worte:) »was die Bomben und das Napalm den Menschen auf unserem Schiff antaten, bin ich nicht so sicher, daß ich noch irgend etwas von dem Zeug auf Nord-Viet Nam abwerfen will«. Aber er hat es getan, und Radio Hanoi meldet seine Gefangennahme.
    Die Sowjets besitzen in Großbritannien ein Ehepaar, die Spione Helen und Peter Kroger, zu Gefängnis bis 1981 verurteilt. Die Briten verfügen über den Spion Gerald Brooke, bis 1970 in einem sowjetischen Arbeitslager zu vermuten. Die Sowjets würden gern tauschen. Die Briten mögen das Geschäft nicht.
    In jenem Studentenheim in Brooklyn, in dem schon Donnerstagnacht ein Mädchen vergewaltigt und eins ausgeraubt worden war, drängte gestern nachmittag ein Mann eine Studentin in ihr Zimmer und legte ihr eine Drahtschlinge um den Hals … Die kam davon.
    DAX , befreundet mit MEMORY , wurde von GRANNY ermordet. Die alte Dame benutzte einen Elektroschock, den sie über MEMORY in DAX leitete. MEMORY soll wohlauf sein; von DAX ist nur eine brandgeschwärzte Stelle übrig.
    Die Nachricht ist von gestern, und immer noch nicht vergessen. Das Vorhaben war gerichtet auf die theoretische Untermaurung eines Vorgangs in der Wirklichkeit. Wir sollten es umtopfen können in die Wirklichkeit. Beim Umtopfen geht etwas verloren, die Lebensbedingungen werden verändert, aber die Pflanze müßte noch kenntlich sein. Schreib mir zehn Worte für mich, Genosse Schriftsteller.
    Plisch, Plum, Schmulchen, Schievelbeiner, Roosevelt, Churchill, bolschewistisch, Weltjudentum, Untermensch, Intelligenzbestie. Das sind Worte, die Gesine Cresspahl im Alter von sieben Jahren wußte. Sie sind nicht keimfrei, keine synthetischen Einheiten. Nun bieten künstliche Einheiten wie DAX für Erinnerung oder CEF für Stamm/Stiel/Stengel der Phantasie nicht eine ganz kühle Schulter, es gibt da neutrale, Unheil verkündende, einladende Kombinationen. Die Worte von Plisch bis Intelligenzbestie sind DAX und CEF in einer erheblichen Eigenschaft ähnlich: der der Irrealität. Wie diese für die Studenten in Princeton, waren jene für ein siebenjähriges Kind in einer mecklenburgischen Landstadt um 1940 nicht reell, unwirkliche, fiktive Sachen. Sie mochten Hund bedeuten, oder Hundchen, aber die Hunde in Jerichow waren anders. Sie mochten Whiskey bedeuten, oder Zigarre, aber Whiskey gab es nicht, und Zigarren waren rationiert, also handfest genug, um noch durch Abwesenheit ganz andere Wirklichkeit vorzuzeigen. Die Worte kamen aus Bilderbüchern, Zeitungen, Versprechern der Erwachsenen. Sie waren Spielzeug.
    Das Experiment in Princeton hätte nicht Worte aus nur einem semantischen Knäuel ausgewählt? Ja, und das Kind in Jerichow ahnte nichts von einer Verbindung zwischen Plum und Churchill, als es sie lernte. Die Verbindung war ein undeutlicher Eindruck im Gefühl, allerdings nicht ungefährlich. Da war über Nacht das Bilderbuch weggeschlossen. Da wurde von DEM Juden mit Scheu gesprochen, mit Vorahnung. Aber es gab sie nicht in Jerichow. Von Dr. Semig habe ich es nicht gewußt. Die Worte ließen sich im tatsächlichen Leben der Stadt nicht ansiedeln. Sie waren keine Worte, nur Behältnisse, tönende, für Inhalte, die nicht zu ihnen gehörten, die in sich gemischt waren und als undeutliche Masse zwischen den

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