Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
hinunter und wieder hinauf, damit sie gesehen wurden, traten auch ein in Geschäfte, und ließen sich Glück wünschen von Bäcker Molten und Schneider Pahl und von Böhnhase, und einigten sich bei Schnäpsen am Ladentisch oder in der Hinterstube mit ihnen jeweils darauf, daß entweder der Einzelhandel oder das Gewerbe das Rückgrat des Mittelstandes sei und daß die Nazis offenbar davon eine Ahnung besaßen. Sogar Stoffregen lief nicht davon, als Papenbrock ihn am Mantelknopf packte und sich eine Gratulation ausbat. Cresspahl begriff nicht, warum der Mann sich so wand in Verkniffenheit und Trauer. Einmal fiel ihm auf, daß Heinz Zoll sich in die Post verdrückte, als sie näherkamen. Als sie die Bürgermeisterei erreicht hatten, war Papenbrock recht rot im Gesicht und kleinen Jähzornausbrüchen gegen seine Louise nicht abgeneigt, aber seine Louise entsann sich der Zeiten auf Vietsen und schickte kein Mal in den Lübecker Hof, wo inzwischen acht Herren auf die Gesundheit des neugeborenen Kindes tranken. Papenbrock wurde überdies zu seinem Sohn beglückwünscht, der durch ein Ereignis namens Umschwung an die Staatsmacht herangekommen war, aber Dr. Erdamer hielt sich davon zurück, und Papenbrock versuchte abzuwinken mit seiner langen, dickgewordenen Hand. Horst hatte sich in Gneez eine Abteilung Polizei gekeilt und suchte mit der Vollmacht und den Listen des Kreisleiters nach einer kommunistischen Sache, die Umtriebe hieß. Papenbrocks Empfindungen schwankten zwischen Stolz auf den Jungen, der nun doch ein forsches und fast militärisches Kommandieren gelernt hatte, und andererseits der Sorge, er selbst werde für die Unternehmungen seines Sprößlings haften müssen, auch gegenüber Dr. Erdamer, der nicht nur Sozialdemokrat war, sondern auch auf Horsts »Abschußliste« eingetragen stand. Vorerst wollte er versuchen, Cresspahl da herauszuhalten, nur für ein paar Tage noch, und Cresspahl war sich nichts vermutend.
Krach wäre ihm zupaß gekommen. Es war nicht nur die alberne Ausgelassenheit aller Frauen in Papenbrocks Haus, die die Männer an die Wand drücken wollten mit der Geburt (»Mein Mann ist im Krankenhaus. Wir haben ein Kind gekriegt«); er hatte sich alles anders gewünscht: ein Einzelzimmer in einer Klinik, ärztliche Aufsicht, ausgebildete Schwestern, Besuchsverbot für Fremde und einen Anschein von Hygiene. Nun lag seine Frau Staat im Teezimmer und mußte die Aufwartungen der befreundeten Familien hinnehmen, und das Kind wurde aufgehoben und den Kindern der Besucher gezeigt und hingelegt und aufgehoben, freundlich betatscht von erdigen und Schnupfenfingern und würde sich Kopfschmerzen zuziehen von den Blumengebinden in der trockenen Heizluft so wie er sie schon hatte, Cresspahl. Es gelang ihm auch nicht, mit Lisbeth unbefangen zu reden (außer in der ersten Nacht, die er auf dem Fußboden neben ihrem Bett verbrachte, die Hände im Nacken verschränkt, leise redend, bis sie ihre plötzliche Angst vergaß und einschlafen konnte). Sie versprach ihm kein Reisedatum, aber sie widersprach ihm auch nicht. Wenn er das Kind ansah, das blind und hilflos Tropfen Zuckerwasser von seinem rissigen Finger nippte, hatte er ein heftiges Gefühl von Eile.
Am Sonntagnachmittag, während aus den Lautsprechern des Musik- und Radiohauses Johs. Schmidt die Schallplattenkonzerte zwischen den neuesten Zahlen von der Reichstagswahl an die Fensterscheiben klirrten, bekam das Kind einen Namen. Im Gneezer Tageblatt war es nur als »ein gesundes Mädchen« annonciert worden. Lisbeth Cresspahl hatte einen Jungen erwartet, und nur den Namen Henry fertig ausgedacht, und Cresspahl hatte nicht erwartet, daß er einmal eher seinen Willen bekommen würde als sie. Sie ließ ihn Vorschläge machen. Sie saß halb aufrecht, gegen drei Kissen gelehnt, und sah ihn an, aufmerksam, fast munter. Ihre Augen schienen dunkler als sonst, sie hatte ihre Farbe noch nicht wieder, und auch die lockeren Haare um ihr Gesicht waren nicht so hell wie sonst. Sie dachte über seine langsamen, nicht ganz überzeugten Einfälle nach, öffnete die Lippen, kaute Luft. Es sah aus wie Abschmecken. Elisabeth sollte das Kind nicht heißen, - welche Lisbeth soll denn kommen, wenn du eine von uns rufst, beide, Cresspahl? Sie verstand ganz gut, daß er als einen zweiten Namen Louise nur aus Höflichkeit gegen Papenbrocks Frau denken konnte, und nicht gern. Sie brachte den Namen seiner Schwester auf. Cresspahl meinte zögernd, es müsse ein Name sein, der keine andere
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