Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
löschten »Plisch« nicht aus und nicht »Plum«. Beim Händewaschen, beim Autofahren, aus dem blanken Nichts kommt die Reimerei des großen deutschen Antisemiten Wilhelm Busch ins Bewußtsein gespült, komplett mit Zeichnungen und dem Kinderentzücken von damals:
Da geht Schmulchen Schievelbeiner.
Schöner ist doch unsereiner.
Auweihgeschrien!
Zu Roosevelt meldet sich noch immer die Berichtigung, daß er nicht tatsächlich das Oberhaupt des Weltjudentums war; die Trauer über Churchills Tod nährte sich aus dem Widerspruch gegen die Faschistenpropaganda; die Verwendung des Wortes »bolschewistisch« durch die Nazis hatte am Ende auch erreicht, daß wir nach dem Krieg immun waren gegen die bürgerlichen Warnungen vor dem Export des Sozialismus durch die Sowjetunion. »Weltjudentum« und »Untermensch« und »Intelligenzbestie« haben sogar überlebt als Aussagen über den jeweiligen Sprecher, seine Identifizierung als Faschist ermöglicht, und das sprechende Pferd, die »Intelligenzbestie«, lebt immer noch, als das gewendete Vorurteil, immer erst einmal zu Gunsten der Intellektuellen, seien sie jüdisch oder mohammedanisch. Es ist nichts vergessen. Es ist angeschlagen, es meldet sich nicht im Gespräch mit Juden, es traut sich nicht aus dem Gedächtnis hervor beim Anblick der jüdischen Zeitungen am Broadway; es ist da, vorhanden, behalten. Und es waren genau wie CEF und DAX , die schwächsten Glieder der Kette, empfindlich gegen Druck, zerbrechlich, verderblich, wie sie ein Kind lernt und kann sie nicht sehen und nicht brauchen und nicht anfassen und nicht haben.
Vielleicht haben wir einen Fehler gemacht. Vielleicht sitzt der faschistische Schutt im Gedächtnis so fest, weil die Schulen der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland viel Zeit verwendeten auf die Bekanntmachung der … der Sachen, die die Deutschen als Nationalsozialisten gegen die Juden getan hatten?
Nein. Die Schule hat uns diese … diese Dinge erklärt als gesetzmäßige Verfallserscheinungen des Kapitalismus in seiner höchstausgebildeten Phase, der des Imperialismus. Der selbe Unterricht lieferte das Werkzeug, mit dem zu erkennen war, daß der Versuch einer »Endlösung« für die Juden nicht durch ökonomische oder machtpolitische Wirkungsmechanismen zustande gekommen war, sondern aus der deutschen Art von Wahnsinn. (Die Schule begann bald mit der Benutzung der Kategorien, die sie anfangs als verwerflich gekennzeichnet hatte, mit einem »Churchill«, der »der Befehlsempfänger der londoner City« war, einem »Roosevelt«, der einen »Spielball in den Händen der Monopole« abgegeben hatte.) Wäre es nach den Anstrengungen der Schule gegangen, wir hätten »Plisch« und »Plum« vergessen. Die schwersten Stromschläge kamen sogar durch eigene Bemühung der Versuchsperson zustande, wenn sie erfuhr, daß es eine Stadt namens Schivelbein in Pommern gegeben hatte, wenn sie herausfand, daß hinter »Schmulchen« ein Prophet und Richter Israels versteckt gehalten wurde. Der Schock war ausreichend, den Wunsch nach Vergessen zu erzeugen, die Empfindung der Albträume, die blinde, vergebliche Gegenwehr des Schlafenden im Kampf mit etwas, das in keinem Aufwachen ganz verschwinden wird.
– Saturday! sagt Marie. - Sonnabend! sagt sie: Tag der South Ferry.
29. Oktober, 1967 Sonntag, Wechsel von Sommer- auf Winterzeit
Gestern, gegen Mittag, in der 53. Straße an der Fünften Avenue, händigten Schauspieler einer Passantin eine Wasserpistole aus rotem Kunststoff ein, drängten sie in einen Kreis und forderten sie auf, einen Halbwüchsigen zu erschießen, der ihr als Angehöriger der Viet Cong vorgestellt wurde. Das Mädchen, eine zwanzig Jahre alte Deutsche zu Besuch in der Stadt, richtete ihre Waffe direkt auf den Jungen und löste den Schuß aus. Das Opfer fiel, lag in Spreizhaltung auf dem Bürgersteig. Als die Schauspieler inmitten der Schaulustigen sich davongemacht hatten, war der Vorfall für Fräulein Gritli Kux noch lange nicht klar.
Die evangelische Kirche zu Jerichow, bei der Cresspahl wegen Anmeldung eines Kindes vorsprach, war immer noch die Kirche von Pastor Methling, so lange war er in der Stadt gewesen, sichtbar, fühlbar, hörbar.
Sichtbar, ein Mann von bald zwei Metern und noch fast zwei Zentnern, dem der Talar um den Bauch weit genug war, jedoch um die Knöchel zu kurz, so daß er unter dem schwarzen Kittel oft lehmige Stiefel zeigte beim Abschreiten der Stadtstraße, erhobenen Kopfes unterwegs zu Hausbesuchen,
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