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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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über seine Sachen Auskunft gibt ohne Wehleidigkeit. Er lebt immer noch allein in zwei Zimmern in Mailand. Es sind nicht mehr die Zimmer neben Vito Genovese; es ist kein eigenes Haus. Der Sohn in Hamburg ist nicht mehr in dem Alter, da er sich mit den Flügen über die Alpen eine Sammlung von Werbegeschenken der Lufthansa anlegen konnte, der Junge kostet nun Geld wie ein Erwachsener. Karsch ist nach New York gekommen, um für ein Buch zu arbeiten.
    Er sieht krank aus. Seine Haare sind fast ganz weiß geworden, mit wenigen dunkleren Strichen darin. Er trägt sie lang, sie stehen ihm wie kleine Wolken um die Schläfen. Damit, und mit den Quetschfalten in seiner ausgesuchten Jacke, der halb verrutschten Krawatte aus dem Laden neben der Scala, verrät er wider Willen, daß niemand sich um sein Leben kümmert. Er ist nicht traurig. Seine Brille ist aus dünnem blitzenden Draht und verspiegelt ihm die Augen. Er will sich nicht verstecken, er will sich nicht viel zeigen. Und wenn Karsch den Rotwein nachschenkt, geht die Flasche mit aufgerichtetem Hals über seinem Glas vorbei. Karsch trinkt nicht mehr.
     
    – Worüber ist das Buch: sagt Marie endlich, ohne Acht für Unhöflichkeit und Benehmen im Restaurant gegen Fremde. Ein Fremder kann nicht sehen, daß sie aufgeregt ist, daß ihr die Fingerspitzen zittern.
    – Über Familien, Familienbande, Familienbesuche: sagt Karsch.
    – In Italien?
    – In Italien, und in deinem Land: sagt Karsch.
    – Warum schreiben Sie nicht über Deutschland?
    – Es gehört nicht zu den Kennzeichen der deutschen Nation, ihre Bücher gleich zu lesen: sagt Karsch, für sich amüsiert, nicht über Marie. Aus seinem Deutsch sind die ostpreußischen und die hamburger Akzente ganz weggewaschen. Er spricht so gleichmäßig, Marie muß ihm in die Augen sehen, um zu begreifen, daß er sich nicht beklagt.
    – Es sind nicht Bücher wie du denkst, Marie: sagt Mrs. Cresspahl, um das Kind abzulenken: es sind Bücher über wirkliche Sachen und Personen.
    Aber Marie läßt sich nicht ablenken.
    – Sie wollen gleich gelesen werden, stimmt das: sagt sie streng, immer noch im Ton des Verhörs. Sie läßt sich von Karschs faulem Nicken kein bißchen einschüchtern.
    – Und was sind das für Familien? sagt sie. Karsch tippt auf die Mitte der zusammengefalteten New York Times, wo berichtet wird über die Masche mit den geklauten Kreditkarten, an der die Familien der Mafia, die Gallos in Brooklyn und die Gambinos, bis vor kurzem gestrickt haben.
    Hattest du Ärger mit den Leuten, Karsch?
    Ein bißchen, Gesine.
    Nun willst du nicht zeigen, daß wir dich kennen, und versteckst uns in der Uno.
    Das Essen war doch erträglich, Gesine.
    Der alte fürsorgliche Karsch.
    Sag mir lieber, was für eine Eifersucht dein Kind da austrägt, Gesine.
    Denn Marie will wissen, wer Karsch solche Reisen über den Atlantik bezahlt, ob Karsch seine Rechnungen wahrhaftig selbst begleicht, ob tatsächlich keine Regierung und keine Universität ihm dabei helfen, ob er wirklich davon lebt, daß er lebt, ob er in der Tat alles anders anstellt als D. E. Sie hat sich verrannt in ihre Aufregung, und ein Fremder kann nicht sehen, daß sie viel gäbe für ein Versteck hinter untadeligem Betragen. Es gelingt ihr erst bei der Verabschiedung. Es ist ein Versprechen, das eine Entschuldigung sein soll. - Wenn Sie noch einmal anrufen, werde ich Sie erkennen: sagt sie.
    Sie sieht Karsch nach, der arglos den Wandelgang hinuntertrödelt, zerstreut und vergeßlich unter seinen gesträubten Haaren, von Kollegen mit Winken begrüßt, mit vertraulichem Armgriff in Gespräche hineingezogen, ein Mensch mit vielen Freunden, berühmten darunter, und sie versichert glaubwürdig, daß sie ihn haßt. Sie läßt sich nicht in die Augen sehen. Sie zieht den Kragen ihres Mantels so hoch, daß sie mit den Spitzen wie zufällig ihre Augenwinkel erreichen kann. - I hate him! sagt sie. - I hate him!

12. November, 1967 Sonntag
    Jetzt halten wir dir die jährliche Rede auf deinen Tod. Es kommt auf den Tag nicht an.
    Du bist tot, verstanden. Das ist deine Sache.
    Es ist unsere Sache, ob wir dich behalten wollen. Immer willst du gedacht werden. Es ist genug ohne dich.
    Du bist es, die gegangen ist. Es war schon fünf Jahre vorher zu sehen, als du den ersten Schritt tatest. Du ließest dich gehen.
    Es war Hilfe da. Du mochtest nicht einmal zugeben, daß du Hilfe brauchtest.
    Alle Leute in ganz Jerichow, ganz Mecklenburg, ganz Deutschland bestanden nicht vor deinem

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