Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
die sich von San Francisco bis an die Ostküste durchwählen und uns nicht mehr ausrichten wollen als die dortige Uhrzeit und das Wetter, und jene, die sich ohne Absicht in der Wählscheibe verirrt haben und nichts sagen möchten als eine Entschuldigung. Schlimm wird es erst, wenn auch die Gespräche unter dem Atlantik automatisch vermittelt werden und deutsche Millionäre ein neues Spiel bekommen. Dann sind wir gänzlich angewiesen auf Marie, die neuerdings ein Vertrauen ins Absurde gesetzt hat und unerwünschte Anrufe abwehrt mit der Versicherung: Dies ist eine nicht verzeichnete Nummer. Dies ist eine nicht verzeichnete Nummer. Es macht auch Hartnäckige irre.
Einmal, erst Ende September, kam unser Telefon in eine Verbindung, wie sie in den fünfziger Jahren in Westberlin benutzt wurde. Die Membran am anderen Ende der Leitung war belebt nicht mit Worten sondern mit Atmen. Es mochte noch so ausgeglichen sein, immer hakte der Luftstrom an einer Stelle rasselnd an und machte das Geräusch bedrohlich. Nichts als Atmen.
Stimmen hörst du genug.
Wenn nur die Toten das Maul halten wollten.
Einmal, vor vierzehn Tagen erst, las eine Frauenstimme etwas vor, rasselnd, gleichgültig, wie von einer Karteikarte: Ihr Name ist Gesine Cresspahl, geboren 3. März 1933 in Jerichow, in den U. S. A. seit 28. April 1961. - Ja: sagte ich, bekam nichts als ein Klicken und hätte mich ausgeben mögen für sonstwen.
– Dies ist eine kaputte Nummer: sagt jetzt Marie mit einer Maschinenstimme, wie auf einem ausgeleierten Tonband: This is a non-working number. Dann, nicht gern, nicht überzeugt, hält sie mir den Hörer über die Schulter und sagt: Ein Typ namens Karsch, weiß nicht wo wir wohnen, kennt mich nicht … woher soll ich das wissen! Du hast von dem noch nicht erzählt!
– Das Kind leih ich mir mal: sagt Karsch.
– Wo bist du denn, Karsch.
– Das möchte ich nicht sagen: sagt Karsch.
– Brauchst du etwas, Karsch.
– So schlimm ist es nicht: sagt er. - Auf Wiedersehen: sagt er: Wiedersehen.
Von Wiederhören hat er nichts gesagt. Davon abgesehen, Donnerstag ist der Tag, an dem die Telefonverwechsler am häufigsten zuschlagen.
10. November, 1967 Freitag
Gestern abend war der Präsident Johnson heimlich in die Stadt gekommen. 500 Polizisten umstellten das Hotel Americana, auf den Dächern um das Haus standen sie, und noch einmal 100 waren in dem Ballsaal, in dem der Präsident jüdischen Gewerkschaftsführern erklärte: Die Nation riskiere einen noch fürchterlicheren Krieg in der Zukunft, wenn sie diesen in einem kleinen und entfernten Land in Südostasien nicht durchstehe. Seite 1.
Auf Seite 17, unter den Busproblemen von White Plains und der Versicherung, daß der Bürgermeister von Albany nicht in betrunkenem Zustand Auto fuhr, bringt die New York Times die amtlichen Toten des Krieges, elfeinhalb Zeilen.
Das Wichtigste auf Seite 1 aber ist ihr die Abbildung des westdeutschen Reisepasses, den der sowjetische Agent Runge benutzt hat. Nicht nur erzählt sie alles Freigegebene aus seinem Leben, sie beschreibt auch die Struktur des sowjetischen Geheimdienstes, komplett mit Zeichnung, so daß wir jetzt wissen, wer da für die blutigen Geschichten zuständig ist: Rodin, alias Nikolai B. Korovin. Allerdings fehlt die Postadresse.
Lisbeth Cresspahl blieb die Beerdigung ihrer Schwiegermutter nicht erspart. Ihre Schwester Hilde nahm sich einen Nachmittag lang Zeit, davon zu erzählen.
Papenbrock hatte Bedenken bekommen, daß seine Familie bei dem Begängnis nicht sollte zu sehen sein. Er hatte wenigstens Hilde an die Müritz hinterhergeschickt.
Als sie kam, war der Sarg noch offen. Er war aufgestellt auf der Diele von Schmoogs Hof. Berta Niemann war seit 1873 mit Erna Lübbe befreundet gewesen, auch weiterhin, als Erna einen Hoferben heiratete und Berta einen Stellmacher, der auf dem Gut des Dorfes arbeitete. Sie hatte ihre Freundin besuchen wollen.
Aus Höflichkeit hatte die alte Cresspahl zuerst die Herrschaft besuchen wollen, für die ihr Mann fünfundvierzig und sie einundvierzig Jahre gearbeitet hatte. Da sie in städtischer Kleidung kam und nicht erkannt wurde, bat die Herrschaft sie in den Salon des Schlosses, bewirtete sie auch noch, nachdem sie ihre Bewandtnisse genannt hatte. In der Aufregung mag sie zu hastig getrunken oder geschluckt haben. Sie überwand sich und bat Frau von Haase um die Erlaubnis, einen Augenblick liegen zu dürfen. Frau von Haase bekam es mit der Besorgnis, die Alte werde auf ihrem
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