Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
Vom Netzwerk:
Hochmut. Für die warst du dir zu gut.
    So zu leben gefiel dir nicht, und du gingst weg. Dachtest, du kämest wohin? (Wir wissen, du hieltest eine Ankunft für möglich, wenn auch nicht mehr eine Begrüßung.) Wie war es denn?
    Du wolltest nicht alle kränken. Ihn hast du gekränkt. Du hast mich gekränkt. Ein Kind. Wir verzeihen dir gar nicht.
    Du sollst deinen Willen haben. Wir machen die Reise. Wir träumen das Flugzeug, wir träumen den Flug, wir reisen in der Nacht, wir hängen in der Luft, wir steigen um an einem Ort, wir müssen weiter durch die Zeit, umso undurchdringlicher als vergangener. Jetzt sind wir wo du warst.
    Da wo du tot bist, sehen wir dich nicht.
    Und nichts wie zurück über England und Irland und Neufundland und Canada nach New York mit zehn Minuten Verspätung. Dahin kannst du nur folgen mit unserer Erlaubnis.
    Es gäbe dich nicht, wenn wir dich nicht mehr wollten.
    Mach dir keine unnützen Hoffnungen.
    Sei nicht ungeduldig. Haben wir dich seit 29 Jahren je im Stich gelassen?
    Benimm dich. Widersprich nicht. Nicht heute.

13. November, 1967 Montag
    Das Gerücht von der Ermordung Francos, das heute morgen mit den Imbißwagen durch die Stockwerke der Bank reiste, hat sich nicht gehalten an der frischen Luft. Er lebt.
    – Unglückseliger Weise: sagt Amanda. - Und wir haben eine Liste so lang wie mein Arm, nicht wahr, Gesine?
    Amanda meint die Liste, in der die überlebenden Diktatoren auf ihr Attentat warten. Amanda ist Mrs. Williams, und heute nimmt Mrs. Williams einen anderen Weg nach Hause, wie Mrs. Cresspahl auch, und beide finden einander in dem Bus, der die Dritte Avenue hinauftrottet wie ein vor Ermüdung ungelenkes Tier. Um fünf Uhr nachmittags braucht der Bus auf dieser Straße zwanzig Minuten, um nur zehn Blocks nach Norden voranzukommen. Der Fahrer kann den langen Kasten nur mit Mühe von den Haltestellen auf die Fahrspur zurückziehen, muß ihn Zoll für Zoll parallel drängen gegen die umstehenden Autos, die immer nur für wenige Schritte vorrücken, so daß er das Grünlicht mehrmals von fern sterben sieht. Erreicht er es einmal, sind auf der Kreuzung Einbieger aus den Querstraßen steckengeblieben, und nun beginnt die neue Arbeit, zwischen den eingeklemmten Privatwagen und Taxis ein Schwenken nach rechts wenigstens anzudeuten. Inmitten der niedrigen Fahrzeuge steht der aufgehaltene Bus wie ein Elefant, der jetzt noch gutmütig seine Dressur vorführt, vielleicht aber gleich ausbrechen wird mit all der Kraft, die er im orgelnden Leerlauf unterbringen muß. Wenn seine grüne Haut grau wird und harte Falten wirft. Der Chauffeur muß aber nicht nur die Fahrt regieren, steuern, Gas geben, Gas geben, bremsen, die geplante Richtung anzeigen, er muß auch noch die Türen öffnen, Geld wechseln, ein Auge auf den Aufprall des korrekten Betrags in der Zahlurne halten, den umgebenden Verkehr und das Verhalten der Passagiere in seinen Rückspiegeln überwachen, die Türen schließen, in der Fahrt mit einer freien Hand die Münzen aus der Zähluhr leeren und in die Kassenröhren ordnen, die eingetauschten Dollarscheine handlich ordnen, falten, wegstecken und alle Zeit unempfindlich bleiben gegen die klumpige Wolke von Ergebenheit und Ungeduld hinter seinem Rücken. Amanda verspricht freiwillig, sie werde niemals einen Menschen heiraten, der in Manhattan einen Linienbus fährt. Amanda spricht nicht aufdringlich laut, aber nicht bekümmert um Zuhörer. Sie würde nicht einmal an der Finanzierung eines Mordanschlags teilnehmen, sie würde sich wehren mit Händen und Füßen gegen den Anblick eines angeschossenen, blutenden Diktators; sie meint nicht die wirkliche Maßnahme, lediglich stellt sie sich auf die Seite ihrer eigenen Gesinnung. Darin glaubt sie uns verständigt und einig. Der ganze Tag seit dem frühen Morgen hat ihre Gefälligkeit nicht aushungern können; so wie sie von neun Uhr bis zum Dienstschluß jeden Besucher der Abteilung und durchreisende Vizepräsidenten mit ausbrechender oder gedämpfter Freude begrüßt hat, läuft noch nun wiederkehrendes Lächeln über ihr bloß achtundzwanzigjähriges Gesicht wie eine eingefahrene Gewohnheit, wie ein fortwährend aufgezogener Vorhang, dessen Bewegung in den Anfang zurückspringt, sobald der Anblick der unverstellten Bühne bevorgestanden hätte. Vor anderthalb Jahren wurde sie vom Personalchef, Mr. Kennicott II , in die Abteilung geleitet als Amanda und kam so aus mit Aller Vornamen, Naomi hier und Jocelyn da, Vorgesetzte ausgenommen.

Weitere Kostenlose Bücher