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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Cresspahl, unversehens so versessen auf einen Abstand, daß sie nicht einmal Amandas vorsorgliche Entschuldigung vorausberechnet hat und mit deren Abwehr mehr sich plagen muß, als der fällige Witz erfordert hätte. Jetzt ist die Unterhaltung angeknickt.
    Inzwischen, schon seit den sechziger Straßen, hat der Chauffeur Annäherungen an den rechten Bürgersteig aufgegeben, obwohl die Leute in seinem Bus nicht mehr gepreßt, fast lose stehen; er hält nur noch, wenn Klingelzeichen es von ihm verlangen, obwohl der Verkehr des Büroviertels mittlerweile zerfasert. In dieser Gegend stehen alle zwanzig Blocks Dispatcher, die die Einhaltung des Fahrplans mit schriftlichen Notizen kontrollieren, und der Fahrer muß aus seinen Verspätungen wieder in die vorgeschriebene Zeit kommen. Weiterhin stellt sich heraus, daß Amanda ihn erkannt hat mit ihrem einen Blick im Vorübergehen, denn der Ring aus Gleichmut und Geduld, mit dem er sich gewappnet zeigte gegen die Ungeschicklichkeit der Privatfahrer, die Vorfahrt der Polizei und die gewöhnlichen Stockungen, seine Rüstung beginnt zu knacken und wird vielleicht am Feierabend zerplatzen unter der angesammelten, zusammengedrückten Wut. - Nu bewegen Sie sich doch, meine Damen: sagt er, in einem Ton, der die zurückbleibenden Fahrgäste zu seinem Unmut einlädt. Vorhin, unter der genauso nach hinten geschobenen Mütze, hat er ausgesehen wie zu Späßen bereit. Mrs. Williams und Mrs. Cresspahl stehen in den neunziger Straßen an der Dritten Avenue, und keine möchte der anderen erklären, wieso sie mit einem nördlichen Bus ins Dorf Greenwich reist, oder auf der Ostseite zur Westseite.
    – Kalt ist das wieder: sagt Mrs. Williams. Sie vertritt sich die Füße, sie wünscht einen Abgang in ausgesprochenem Einvernehmen. Nach Osten fällt die Insel tief ab zu der finster spiegelnden Schüssel des East River, wo das Tor zur Hölle ist.
    – Entschuldigung: sagt Mrs. Cresspahl. Das kann gelten für die Eile, mit der sie dem Grünlicht über die Straße davonläuft, oder für etwas anderes.
    Es tut mir leid, du, Mrs. Williams.
    Aber es ist so, ihre Stimme hören wir nicht in Gedanken.

14. November, 1967 Dienstag
    Senator Robert F. Kennedy, nicht an der Regierung, ist nicht der Meinung der Regierung, etwa was Viet Nam angeht. »Trotz des Tötens und trotz des Zerstörens sind wir heute in keiner besseren Lage als vor einem Jahr, und unsere Lage wird in einem Jahr nicht im mindesten besser sein«: schreibt er, und Verhandlungen mit den Viet Cong empfiehlt er überdies. Die Regierung will aber von versäumten Verhandlungen nichts wissen.
    Che Guevara, Reisender in Revolution, hat in Bolivien nicht nur sich selbst fangen lassen, auch sein Tagebuch.
    Gestern hat die Polizei in der West End Avenue vier Jugendliche gefaßt, als sie Marihuana für eine Viertelmillion Dollar in ihren Wagen luden.
     
    – 785 West End Avenue, wo ist das, Marie?
    – Die letzte Ziffer vergessen, den Rest durch zwei, plus sechzig: es ist bei uns um die Ecke, Mrs.,
madam,
Gesine.
    – Wußtest du, daß es an der 99. Straße war?
    – Mir hat es Esmeralda erzählt, die hat es von Jason, und Jason hat es gesehen. Dazu brauch ich nicht die New York Times, anders als eine Dame, die ich kenne,
madam,
Mrs. Cresspahl.
     
    Am dritten Wochenende im März 1933 hatte Cresspahl gerade den vierzehnten Tag in Mecklenburg vertan, und als er einigen Leuten in Jerichow ins Haus kam, glaubten sie ihn auf Abschiedsbesuchen. Der Mann konnte sich unmöglich länger darauf verlassen, daß seine Werkstatt dahinten in England von allein in Gang blieb. Das war ihnen klar.
    Martha Maaß sah ihn vorübergehen an den Türen zur Schreibwarenhandlung und zur Druckerei und gab ihn auf als Kunden. Wozu sollte dieser Cresspahl noch Briefpapier brauchen in Jerichow, was für Anzeigen hatte er noch aufzugeben? Abends war sie sich einig mit Maaß, daß sie ihn die ganze Zeit für vernünftig genug gehalten hatten; und es waren Zeiten, in denen sie sich nach kleineren Anzeigen bückten als der über die Neueröffnung eines Tischlerbetriebs. Immerhin begrub Maaß das Gespräch etwas verdrossen mit der Bemerkung: Reisende Leute soll man nicht aufhalten.
    An Dr. Erdamers Haus ging Cresspahl vorbei ohne über die Büsche zu blicken, obwohl er Türen klappen hörte und ihm war, als riefe die Tochter seinen Namen. Dann war er sicher und wandte sich doch nicht um. Ihm war nicht ganz unerfindlich, warum der beurlaubte Bürgermeister sein Benehmen

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