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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Dann saß sie am fünften Tag nicht an ihrem Telefon, als die Lohnbuchhaltung eine Mrs. Williams verlangte und war unter diesem Namen Naomi nicht und Jocelyn nicht bekannt, nur Mrs. Cresspahl, die auch neuerdings sich vertritt in die förmliche Anrede. Dergleichen beleidigt Amanda nicht, sie überhört den Versprecher wie eine Unhöflichkeit wider Willen. Ihre Freundlichkeit ist nicht achtlos. Wenn sie den Mädchen ihres Schreibzentrums die vierzehntägigen Schecks aushändigt, tut sie es mit Bemerkungen über den Kahn, der von neuem flott gekommen ist, oder hinsichtlich des Schornsteins, der wieder raucht; bei Mrs. Cresspahl legt sie das zugeklebte Couvert ab wie Post, allerdings neben den Korb für Eingänge, und wenn mit glückwünschender Miene, dann nicht vertraulich. Den Unterschied in Arbeit und Bezahlung behandelt sie diskret. Sie schreibt für Mrs. Cresspahl, sie verteilt selbst Aufträge an ihre Typistinnen; sie verhandelt nach allen Seiten in den Formen der Bitte und gegenseitigen Beratung, außer mit den männlichen Chefs der Abteilung. Auf Mitteilungen aus dem privaten Leben ist sie so begierig wie sie aus dem eigenen berichtet: mit Maßen, fino a un certo punto. Sie kommt aus einer der Bungalowhorden in der Nähe von St. Paul, sie erzählt von Wintern in Minnesota; sie fliegt zur Beerdigung ihres Vaters und erwähnt den Zwischenfall drei Monate später beiläufig, so daß sie dem Gefühl Fremder entgangen ist. Sie hat einen Studenten geheiratet, der für die städtische Polizei als Psychologe beschäftigt ist; versehentlich hat sie eine Anstellung bei der Polizei empfohlen als ein Mittel gegen die Einziehung zum Krieg in Viet Nam. Sie arbeitet als Chefsekretärin nur, um ihre Wohnung in der Bleecker Street vollends in skandinavischem Stil auszustatten, oder für die nächste Sommerreise nach Südeuropa; sie würde nicht zugeben, daß sie an eigene Kinder nicht denken mag ohne eine ausreichende Rücklage. Sie weiß von Mrs. Cresspahl den tatsächlichen Familienstand und gibt ihr vor Dritten den Titel der Verheirateten wie einen Schutz, sie richtet ihr die Einladungen ganz unterschiedlicher Herren zum Mittagessen aus in einer amüsierten Art, der nicht einmal Neugier anzumerken ist, geschweige denn Billigung, sie weiß von Maries Malheurs mit der Sprache oder dem Denken zwar nicht die gefährlichen, jedoch die lachhaften; mitunter täuscht das Gefühl eine Bekanntschaft vor. Es ist angenehm, in ihrer Gesellschaft beobachtet zu werden, sogar im Bus M 101 zur Zeit des Stoßverkehrs. Die Umstehenden erholen sich an ihrer unermüdlichen, noch mädchenhaften Stimme, billigen ihr kesses Mundwerk, betrachten bedächtig oder mit offenem Bedauern ihre festen, üppigen Beine, dann ihre ausgiebigen Formen in dem engen, soldatischen Mantel, zuletzt ihr weiträumiges, halbwaches Gesicht, das für einfach versteht, wer die gelegentliche Straffung der Lippen, die Verengerung der Augen auf einen einzigen Punkt verpaßt. In der Freundlichkeit, die sie erzeugt, haben mehr Platz als nur sie allein. Jetzt redet sie über die Handtaschendiebstähle im südamerikanischen Stockwerk in ihren staunenden, besserwisserischen, unernsten Tönen, hängt vorbildlich entspannt am Haltebügel, fängt ohne Ärger die unverhofften Schwankungen des Fahrzeugs auf, vergnügt sich an den unentschlossenen Blicken der Herren auf den Sitzbänken. Sie ist eine lustige Person. Ist sie keine Freundin? Bitte sie um Geld, und sie wird nachsehen, für wie lange sie es entbehren kann. Lade sie an deinen Tisch, sie wird dir Freude zeigen und nicht Verdruß über den lästigen Verlust an Zeit, bis sie gegangen ist. Packe ihr Besorgungen auf, sie wird jede Mühe abstreiten. Verlang von ihr, für dich zu lügen: sie wird es tun. Woher kommt die Gewißheit, daß wir nur Sprache zwischen uns haben, und nicht Verständigung? Wie ist es möglich, daß da etwas fehlt? Sogar hören wir doch die gutartige Überheblichkeit der ehemaligen Studentin heraus, wenn sie sich befaßt mit dem Pfarrer in Williamsburg, der in seiner gestrigen Predigt vom Präsidenten der U. S. A. »irgend eine logische, aufrichtige Antwort« verlangte auf die Frage, warum die Nation in Viet Nam zu Gange sei. Amanda findet das Ansinnen erheiternd. - Vielleicht wollte er etwas davon haben, daß der Präsident in der ersten Reihe saß: sagt sie, und ihre verträumte Bosheit gilt beiden, dem Geistlichen wie dem mächtigen Schaf seiner Gemeinde.
    – Ich weiß nicht viel von Pastoren: sagt Mrs.

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