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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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die Karte von 1961 von den Nägelköpfen, legt sie behutsam in die Brüche von 1961, streicht die Karte von 1967 an der Wand glatt und drückt die Nägel durch. Da hängt die neue.
    – Die andere ist zum Aufheben: sagt Marie.
    – Zum Aufheben für wen. Für dich?
    – Für dich doch, Gesine, Mensch: sagt Marie.

27. November, 1967 Montag
    In Westdeutschland ist eine neue Partei gegründet worden. Ihr Programm wünscht die Kündigung des Nordatlantischen Vertrages, eine Volksabstimmung über die Anerkennung Ostdeutschlands und die Abschaffung von Einkommen, das nicht aus Arbeit rührt. Die New York Times gibt dem Unternehmen wenig Zukunft und elfeinhalb Zeilen.
    Der Botschafter der U. S. A. in Viet Nam erklärt: der Krieg in Viet Nam werde mißverstanden.
    Gestern morgen in der Bronx drang James Dennis ein in die Wohnung von Wilbur Johnson, ließ ihn durch Mrs. Johnson fesseln, vergewaltigte Mrs. Johnson und nahm mit den Wertsachen Abschied. Auf der Straße hörte er seinen Namen rufen, blickte nach oben und sah Johnson auf ihn schießen. Offenbar hatte er die Flinte in Johnsons Schrank übersehen. Womöglich kannte er ihn gar nicht.
    Das war das Wochenende von Thanksgiving.
    Aber in Richmond war es Juli, und Cresspahl vergnügte sich an einem ausgewachsenen Baum in seinem Hof. Es war eine Rüster. Sie hatte ihm seit dem Frühjahr Sorgen gemacht, weil sie in den unteren Zweigen mit fettem Laub ausschlug und um die Mitte geradezu beleibt wurde, in der Krone aber lange schütter blieb und einem schamhaften Kahlkopf gleichsah, und war zu jung dafür. Dann kam er darauf, daß sie nicht krank war, sondern die Krone hatte in den Wind halten müssen und unten herum von den umgebenden Hausmauern gewärmt worden war. Noch im Mai hatte er durch die Spitze hindurchsehen können. Nun aber war der Baum am ganzen Leibe zugewachsen und im Lot. Solcher Art waren die Sorgen meines Vaters im Sommer 1933.
    Das war im Juli, und schon fanden Flüchtlinge aus Deutschland den Weg zum Gaswerk von Richmond. Die kamen mit Grüßen von Erwin Plath und wollten Cresspahl im Vertrauen etwas ausrichten. Es hieß: Hett dei Kau den Schwanz verloren, denn markt sei ierst, wotau hei gaut is. Die winkten gequält ab und wollten nicht hören, aus welchem Grund Cresspahl den Sozialdemokraten seit elf Jahren keine Parteibeträge mehr gezahlt hatte; die wollten ein Bett in einem Zimmer mit einer verschlossenen Tür. Später erzählten sie von einem »Konzentrationslager« bei Fürstenberg, wo ein Kerl namens Rahn als »Ossi Menschenfreund« bekannt war, weil seine Opfer ihm mit dieser Anrede Dank für Prügel und Strafen abstatten mußten; einer wußte für sicher, daß der Kinderarzt Posner in Rostock sich selber am Hals aufgehängt hatte, eben erst, am 8. Juli, »weil er Jude war«. Wenn sie die Keller der S. A. und die Flucht und die Ankunft zur Not ausgeschlafen hatten, standen sie etwas klamm im heißen Hof, ältere Herren zumeist, gelenksteif vom Sitzen an den mecklenburgischen Schreibtischen der S. P. D., und stellten sich auch ungeschickt an, wenn Mr. Smith ihnen seine Fassung des Englischen beizubringen versuchte. Die blieben nicht lange. Im Hause dieses Cresspahl war es nicht behaglich; nicht etwa, weil ein Gast am dritten Tag beginnt zu stinken, und nun fremde Gäste erst. Nein, da fehlte eine Frau. Eine Frau hätte nicht solche unerhörten Sorten Essen in kaltem Zustand auf den Tisch gebracht; mit einer Frau hätte sich reden lassen über die eigene und die Familie, die in Deutschland zurückgeblieben waren. Und offenbar war es in Cresspahls Haus verboten, nach der Frau und den Kindern zu fragen. Ähnlich mürrisch und undeutlich ließ der sich auch zu den politischen Problemen vernehmen, ob das nun die British Union of Fascists oder die Irish Republican Army war. Und es ging auf die Dauer nicht an, dem und seinem Mr. Smith beim Arbeiten zuzusehen, sogar das Geräusch ihrer Arbeit kam Einem nach über das ganze Anwesen. Die fanden bald den Weg zur Bahnstation von North Sheen um die Ecke und suchten nach ihren Leuten in der Stadt und kamen wohl einmal zurück mit einer ganz anderen Art von Englisch und kamen nicht mehr. Nur einen der ersten Ankömmlinge, Manning Susemihl, zog es gar nicht auf die Straße. Er war Kurier der sozialdemokratischen Gauführung Schwerin gewesen, ein Junge von fünfundzwanzig Jahren, dem noch das zutrauliche und rührende Kind anzusehen war, das ihm besser gestanden hatte als die weißlich verheilten Striemen

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